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Nach der Auffassung von Österreichs Außenminister Alexander Schallenberg (ÖVP) hat die EU ihre Lehren aus der Flüchtlingskrise gelernt.

© Foto: picture alliance/dpa/APA

Treffen der Außenminister in Berlin: „Der Westbalkan ist der Lackmustest für die EU“

An diesem Freitag berät eine Konferenz des Auswärtigen Amts über den Westbalkan. Österreichs Chefdiplomat Schallenberg erklärt, warum auch steigende Flüchtlingszahlen diskutiert werden müssen.

Herr Minister, an diesem Freitag kommen europäische Außenminister in Berlin zusammen, um über den westlichen Balkan zu beraten. Bundeskanzler Scholz hat von einer künftigen EU mit „27, 30, 36 Staaten“ gesprochen. Das würde dann auch einige Westbalkan-Staaten umfassen. Teilen Sie die Vision?
Absolut. Deutschland und Österreich bilden in der EU gewissermaßen die Speerspitze jener Staaten, die eine feste Verankerung aller Westbalkan-Staaten in der Gemeinschaft fordern. Man muss zwei Dinge klar sehen: Der Balkan wird manchmal salopp als ‚Hinterhof Europas‘ bezeichnet, das ist falsch. Der Westbalkan ist der Innenhof Europas. Das wird durch einen Blick auf die Landkarte deutlich, er ist umgeben von EU-Mitgliedsstaaten.

Zweitens haben wir bereits vor 19 Jahren bei einem EU-Gipfel in Thessaloniki allen Staaten des westlichen Balkans die Beitrittsperspektive gegeben. Dies geschah auch aus Eigeninteresse: Es gibt keine nachhaltige Sicherheit und Stabilität in Zentraleuropa ohne nachhaltige Sicherheit und Stabilität in Südosteuropa.

Andere Staaten wie Frankreich stehen da eher auf der Bremse. Wie lautet Ihre Prognose, was den Zeitpunkt des Beitritts der ersten Westbalkan-Staaten zur EU anbelangt?
Ich will mich nicht auf ein Jahr festlegen. Entscheidend ist, dass der Beitrittsprozess glaubwürdig ist. Es muss uns zu denken geben, dass die Stimmung in den Westbalkan-Staaten kippt. Besonders junge Menschen glauben nicht mehr an die Perspektive im eigenen Land und verlassen die Region. Alle Länder des Westbalkans leiden unter einem massiven ‚Brain drain‘. Das kann nicht in unserem Interesse sein.

Bosnien-Herzegowina hat jetzt den Status eines EU-Beitrittskandidaten erhalten. Bei den jüngsten Wahlen konnten dort zwar gemäßigte Kandidaten Erfolge erzielen, aber die Nationalisten bestimmen immer noch das Geschehen. Wie weit ist das Land auf dem Weg in die EU?
Alle Volksgruppen müssen sich im Staatsgefüge Bosnien-Herzegowinas wiederfinden. Christian Schmidt hat als Hoher Repräsentant, der für die Umsetzung des Dayton-Abkommens zuständig ist, bei seinem Amtsantritt eine schwierige Situation vorgefunden. Er meistert seine Aufgabe mit großer Umsicht. Man darf nicht übersehen, dass das Land vor einem schwierigen Transformationsprozess steht. Unsere größte Hoffnung ruht auf der Zivilgesellschaft. Vor allem die Jugend kann eine Abkehr von starren, nationalistischen Denkweisen herbeiführen.

In Banja Luka in Bosnien-Herzegowina protestierten Anfang des Monats Menschen gegen angeblichen Wahlbetrug bei den Parlamentswahlen.

© Foto: dpa/Radivoje Pavicic

Muss die Art und Weise, wie die EU Beitrittsgespräche mit den Kandidatenländern führt, verändert werden?
Die Abwicklung des Beitrittsprozesses mit der Öffnung und Schließung einzelner Beitrittskapitel läuft sehr bürokratisch ab. In der EU muss sich aber endlich die Erkenntnis durchsetzen, dass die Erweiterung unser stärkstes geopolitisches Instrument ist. Es gibt in der Politik kein Vakuum.

Entweder schaffen wir es, dass die Staaten des Westbalkans  klar Teil unserer Familie sind, oder sie werden mit anderen Kräften und anderen Lebensmodellen konfrontiert sein, die uns nicht gefallen können. Wir müssen Staaten wie Russland, China oder Ländern aus Nahost, die in der Region Einfluss nehmen wollen, ein klares Gegenmodell entgegenhalten.

Kann man sagen, dass Russlands Überfall auf die Ukraine auch das Tempo des EU-Beitritts für die Westbalkan-Staaten beschleunigt hat, weil die Gemeinschaft den geostrategischen Einfluss in der Region zurückdrängen will?
Ich hoffe, dass es so ist. Der Westbalkan ist gewissermaßen der Lackmustest für die EU. Wenn wir es nicht einmal in unserer unmittelbaren Nachbarschaft schaffen, geostrategisch zu handeln, dann brauchen wir auch nicht mehr über die EU-Politik für den Nahen Osten oder den Südkaukasus reden.

Serbiens Präsident Aleksandar Vucic steht in der Kritik, weil er Menschen aus Staaten wie Indien oder Tunesien Visafreiheit gewährt. Dies führt zu neuen Flüchtlingsbewegungen auf der Balkanroute. Ist es ausreichend, dass Vucic zum Jahresende eine Änderung der Visapolitik angekündigt hat?
Es gibt die Bereitschaft in Belgrad, die serbische Visapolitik den Standards der EU anzupassen. Jetzt müssen den Worten auch Taten folgen. Wir wollen natürlich, dass das schnell passiert. Der Flughafen Belgrad ist ein Hotspot für Menschen, die visafrei in Serbien einreisen und dann als illegale Migranten in Österreich aufschlagen.

Wir glauben, dass allein schon eine Anpassung an die EU-Visaregeln zu einer spürbaren Entlastung führen wird. In diesem Jahr wurden bislang in Österreich fast 60.000 Asylanträge registriert – der höchste Wert seit sechs Jahren.

Serbiens Präsident Aleksandar Vucic hat Änderungen bei der Visapolitik seines Landes angekündigt.

© Foto: AFP/Ludovic Marin

Muss ein europäischer Flüchtlingsgipfel organisiert werden?
Es braucht keinen Gipfel, sondern konkrete Schritte etwa beim Grenzschutz: der Bereitstellung von Polizeieinheiten und finanzielle Unterstützung. Sieben Jahre nach der Flüchtlingskrise herrscht heute in der EU-Kommission glücklicherweise ein viel größeres Verständnis für die Notwendigkeiten als 2015/2016. So hat der zuständige EU-Kommissionsvizepräsident Margaritis Schinas Serbien finanzielle Unterstützung für den Grenzschutz zugesichert.

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Kommen wir noch zu den EU-Sanktionen gegen Russland. Einige EU-Staaten wie Polen und die baltischen Länder fordern, die Sanktionen zu verschärfen und weitere russische Banken ins Visier zu nehmen. Sind Sie auch dafür?
Wir brauchen jetzt Augenmaß und Nervenstärke. Eine Art Sanktions-Mechanismus, dass alle vier Wochen, wenn sich die Außenminister treffen, ein neues Paket beschlossen wird, ergibt keinen Sinn. Wir haben ein umfassendes Sanktionsregime mit acht Sanktionspaketen. Jetzt müssen wir die strategische Geduld haben, sie auch weiter wirken zu lassen.

Bei der gemeinsamen EU-Politik gegenüber Russland ist Ungarn gerade wieder als Quertreiber aufgefallen. Ungarn hat den Beschluss der EU-Partner für eine EU-Ausbildungsmission für die Ukraine nicht mitgetragen.
Das ist insofern erstaunlich, als auch neutrale Staaten wie Österreich, Irland und Malta dieser Ausbildungsmission zugestimmt haben. Ich würde es aber auch nicht überbewerten. Aber etwas anderes finde ich bedenklich: In Ungarn sollen nationale Konsultationen über die Sinnhaftigkeit der EU-Sanktionen gegen Russland abgehalten werden.

Diese Pläne halte ich für verstörend. Wenn die Frage im Sinne des ungarischen Regierungschefs Viktor Orbán stark tendenziös gestellt wird, halte ich das für eine unnötige Stimmungsmache in einer für uns alle bereits sehr angespannten Situation.

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