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Da waren sie noch Freunde. Abdullah Gül (links) und Staatschef Recep Tayip Erdogan.

© Mira/AFP

Türkei: Risse in Erdogans Partei

Der ehemalige türkische Präsident Gül sorgt mit Kritik am „Anführer“ Erdogan für Aufsehen.

Recep Tayyip Erdogan ist Widerspruch nicht gewohnt. „Reis“ – Anführer – wird er von seinen Gefolgsleuten genannt: Daraus spricht bedingungslose Loyalität. Ausgerechnet sein alter Weggefährte, der frühere Präsident Abdullah Gül, übt jetzt öffentlich Kritik an der Regierung und bleibt auch nach einer Zurechtweisung durch Erdogan bei seinen Einwänden. Das hat im politischen Ankara für einige Turbulenzen gesorgt. Schon wird der als Reformer und überzeugter EU-Unterstützer bekannte Gül als Kandidat gegen Erdogan bei der Präsidentschaftswahl im kommenden Jahr gehandelt.

Ganz so einfach ist es nicht, doch der Streit zeigt, dass Erdogan trotz seiner Machtfülle politisch verwundbar ist – und die Präsidentenwahl noch nicht in der Tasche hat. Dass Gül unzufrieden ist mit dem autokratischen Kurs seines Nachfolgers, ist kein Geheimnis. Er ist ein Gegner des Präsidialsystems, das Erdogan bei der Wahl 2019 vollenden will. Jetzt aber ist Gül einen entscheidenden Schritt weiter gegangen. Auf Twitter wandte er sich gegen ein neues Dekret, das Erdogan-Anhängern bei Gewalt gegen mutmaßliche Staatsfeinde volle Straffreiheit zusichert. Die Regierung betont, die Regelung gelte lediglich für die Tage des Putschversuchs von 2016, doch die Opposition befürchtet, die Regierung wolle ihre eigenen Milizen aufbauen. Gül schloss sich dieser Kritik an.

Gül hat viele Freunde

Erdogan vewahrte sich über die regierungstreue Presse gegen die Kritik seines Vorgängers, doch Gül erwiderte per Twitter, er werde auch weiter seine Meinung sagen. Gül habe Erdogan damit bewusst herausgefordert, sagt der Journalist Rusen Cakir, einer der besten Kenner der von Erdogan und Gül einst gemeinsam gegründeten Regierungspartei AKP. Mit seiner Twitter-Äußerung habe Gül zudem dem ganzen Land gezeigt, dass er die größtenteils von Erdogan kontrollierten Medien umgehen könne, sagte Cakir im Internet-Fernsehkanal Medyascope.

Der 68-jährige Gül hat in der AKP nach wie vor viele Freunde, weshalb Erdogan ihn nicht einfach als Verräter abkanzeln kann. Noch wichtiger ist, dass die Kritik des Ex-Präsidenten die Unzufriedenheit in der Regierungspartei mit Erdogans Politik sichtbar macht. Laut Umfragen ist eine Mehrheit für Erdogan bei der Präsidentenwahl im kommenden Jahr sehr unsicher. Im Sommer hatte Erdogan mit der Entlassung namhafter Lokalfürsten der AKP versucht, die Partei auf Linie zu bringen. Dieser Versuch ist gescheitert, wie Güls Kritik zeigt. Neue innerparteiliche Risse in der AKP könnten Erdogans Wiederwahl gefährden.

Mit der geplanten Umstellung auf das Präsidialsystem habe sich die AKP selbst ein Bein gestellt, schrieb der Kolumnist Etyen Mahcupyan in der Zeitung „Karar“: Im neuen System brauche die Partei mehr als 50 Prozent für die Macht, während im parlamentarischen System ein weit geringerer Stimmenanteil für die Regierungsmehrheit ausreichte. Mahcupyan ist ein Ex-Berater des früheren Premiers Ahmet Davutoglu, der wie Gül zu den potenziellen AKP-Dissidenten zählt.

Laut einigen Presseberichten will sich Gül als parteiloser Präsidentschaftskandidat aufstellen lassen – die dafür nötigen 100 000 Unterschriften von Wählern würde er problemlos erhalten. Sollte Gül gegen Erdogan antreten, könnte der derzeitige Präsident bei der Wahl im kommenden Jahr die 50-Prozent-Marke vergessen. Doch Gül ist als Zauderer bekannt. Möglicherweise will Gül seinem alten Freund Erdogan lediglich die Grenzen aufzeigen, ohne selbst in den Ring zu steigen. Doch mit seiner Kritik am „Reis“ ist Gül zu einem Rivalen geworden – ob er will oder nicht. Susanne Güsten

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