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Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan.

© AFP

Türkische Verfassungsreform: Punktsieg für Erdogan

Die Gegner des türkischen Ministerpräsidenten in der Politik und in der Justiz sind mit dem Versuch gescheitert, die weitreichendste Verfassungsreform seit 1982 zu stoppen. Das Verfassungsgericht in Ankara ließ große Teile der Reform passieren.

Die letzte Entscheidung fällt bei einer Volksabstimmung am 12. September. Damit kommt Erdogan seinem Ziel näher, die Macht der traditionellen kemalistischen Eliten im Staatsapparat zu brechen - während seine Gegner nun erst recht die islamistische Machtergreifung befürchten. Völlig aus dem Blickfeld gerät bei dem Streit, dass viele Vorhaben des Reformpakets die Türkei auf ihrem Weg in die EU ein gutes Stück weiterbringen können.

Fast schon routinemäßig hatte das mehrheitlich mit Erdogan-Gegnern besetzte Verfassungsgericht in den vergangenen Jahren wichtige Vorhaben der Regierung gestoppt, teilweise mit fadenscheinigen Begründungen. Obwohl weitgehend Einigkeit über die Reformbedürftigkeit der von den Militärs diktierten Verfassung aus dem Jahr 1982 besteht, wurde auch diesmal ein Einspruch der Richter erwartet. Denn Erdogans Verfassungsreform enthält unter anderem Pläne für einen Umbau der Justiz, die nach Meinung von Regierungsgegnern auf eine Unterwerfung der Judikative unter die Exekutive hinauslaufen.

Doch offenbar bot das mit der Stimmenmehrheit von Erdogans Regierungspartei AKP im Parlament verabschiedete Reformpaket den Skeptikern im Gericht kaum Angriffsflächen. Die Richter kippten lediglich drei Einzelregelungen, bei denen es um die Ernennung von Mitgliedern des Verfassungsgerichts und eines Gremiums zur Besetzung von Richter- und Staatsanwaltsposten geht.

"Ein chirurgisch Eingriff" sei das gewesen, titelte die Zeitung "Radikal": präzise, aber auch eng begrenzt. Denn wichtige Teile des Justiz-Umbaus, wie die vorgesehene Beteiligung des Parlaments an der Auswahl der Verfassungsrichter, blieben unbeanstandet. Der Oppositionsantrag auf Annullierung des gesamten Reformpakets wurde vom Gericht abgewiesen. Erdogan kann den Großteil seiner Reformpläne für die Justiz in die Tat umsetzen, wenn die Wähler in der Volksabstimmung zustimmen.

Entsprechend fielen die Reaktionen aus. Nach der Urteilsverkündung moserten einige Regierungsvertreter zwar über die Annullierung der Einzelposten, doch insgesamt war das Erdogan-Lager zufrieden. "Ich finde die Entscheidung super-positiv", freute sich Regierungssprecher Cemil Cicek.

Dagegen war das Lager der Kemalisten, die sich als Hüter des säkulären Erbes von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk betrachten, in Aufruhr. Die Kemalisten stellen die traditionellen Eliten der Türkei und sehen den Aufstieg der von Erdogan angeführten fromm-anatolischen Mittelschicht als Gefahr für eigene Machtpositionen. Nach fast acht Jahren AKP-Herrschaft ist die hohe Justiz eine der letzten Bastionen, die den Kemalisten geblieben sind - mit der Verfassungsreform gerät nun auch diese ins Wanken. Kemalistische Organisationen wie der Juristenbund YARSAV zeigten sich deshalb bitter enttäuscht darüber, dass die Verfassungsrichter nicht die gesamte Reform gestoppt haben.

Das Urteil sorgt für klare Fronten im Referendums-Wahlkampf, der jetzt beginnt: Erdogan und seine AKP werben für ein Ja der Türken am 12. September, die Kemalistenpartei CHP fordert die Wähler auf, das Paket zurückzuweisen. Laut Umfragen kann die AKP mit einer Mehrheit rechnen.

Das liegt auch daran, dass das Verfassungspaket mehr beinhaltet als nur die umstrittene Justizreform. Es stärkt die Rechte von Kindern, Frauen und Behinderten, es führt erstmals ein individuelles Klagerecht für türkische Bürger vor dem Verfassungsgericht ein, es widmet sich dem Datenschutz, es verbessert die zivile Kontrolle über die Militärs.

Für viele Türken fast am wichtigsten ist die vorgesehene Aufhebung der rechtlichen Immunität für die Anführer des Militärputsches von 1980. Wird das Reformpaket angenommen, werden Ex-Generäle wie Kenan Evren, der Chef der Putschisten und spätere Staatspräsident, wegen Mord und Folter an mehreren tausend Menschen vor Gericht gestellt werden können. Der Tag des Referendums fällt zufällig auf den 30. Jahrestag des Umsturzes vom 12. September 1980 und erhält damit als Gelegenheit für eine Abrechnung mit den Putsch-Zeiten zusätzlich hohe Symbolkraft: Allein das dürfte dem Paket viele Stimmen sichern.

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