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Ein russisches Militärfahrzeug auf der Brücke, die Cherson mit dem Ostufer des Dnipro verbindet.

© imago/ITAR-TASS / Imago/Sergei Bobylev

Ukraine-Invasion Tag 274: Wie Moskaus erstaunlich geordneter Rückzug aus Cherson ablief

Kreml verlegt Eliteeinheiten in den Donbass, neue Milliardenhilfe der EU für die Ukraine, Wasserversorgung in Kiew teilweise wiederhergestellt. Der Überblick am Abend.

Nach und nach wird klarer, wie die russischen Truppen den vergleichsweise geordneten Abzug aus Cherson Anfang November bewerkstelligt haben. Angesichts der teils chaotischen Kriegsführung seit Februar ist das durchaus eine Überraschung; offensichtlich ging dabei auch weniger Gerät und Munition verloren als während des überstürzten Rückzugs in Charkiw ein paar Wochen zuvor.

Laut einer ukrainischen Eliteeinheit, deren Mitglieder CNN interviewen konnte (Quelle hier), haben die russischen Verbände vor dem Abzug aus Cherson teilweise rund die Hälfte ihrer Soldaten verloren. Außerdem seien rund 90 Panzer zerstört worden, eine gewaltige Zahl. Den Unterschied hätten im Laufe der Monate die aus dem Westen gelieferten Präzisionswaffen gemacht. Sie hätten den Nachteil ausgeglichen, dass die Russen über deutlich mehr Gerät und Munition verfügten. 

In den Tagen bevor Moskaus Truppen den Abzug begonnen hätten, sei der Artilleriebeschuss noch einmal deutlich verstärkt worden, um die ukrainischen Verbände auf Distanz zu halten. Gleichzeitig war der Kreml auch durchaus erfolgreich darin, die wahren Pläne für Cherson zu verschleiern. Noch kurz vor dem Abzug wurden Truppen nach Cherson verlegt, um den Eindruck zu erwecken, man wolle das Gebiet halten. Gleichzeitig scheint wochenlang vor allem schweres Gerät wie Artillerie und Panzer über den Fluss Dnipro auf die Ostseite des Flusses geschafft worden zu sein.

Bis zu allerletzt glaubten die Ukrainer, dass die Russen das Gebiet verteidigen würden. „Wir konnten es erst glauben, dass sie wirklich weg sind, als wir in ihre leeren Stellungen gekommen sind“, erzählt Rodriguez, ein Mitglied des Teams. 

In der Nacht vom 8. auf den 9. November seien die zweite und dritte russische Verteidigungslinie in Richtung des Flusses aufgebrochen. Die Truppen in der vordersten Reihe hätten sich am frühen Morgen des 9. in Richtung Fluss zurückgezogen, sie ließen schwer vermintes Gelände zurück, um die Ukrainer auszubremsen. Am Nachmittag des 9. November kündigten Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Ukraine-Oberkommandeur Sergej Surowikin den Abzug an. Am 10. November hatten alle russischen Truppen die Ostseite des Flusses erreicht. Am 11. waren alle Soldaten, wahrscheinlich um die 20.000 Mann, auf die Ostseite übergesetzt. Noch am selben Tag erreichten die ukrainischen unter Jubel das Stadtzentrum von Cherson. 

Die wichtigsten Nachrichten des Tages

  • Hätte Angela Merkel mehr tun können, um Putins Krieg gegen die Ukraine zu verhindern? Dieser Kritik muss sich die Ex-Kanzlerin immer wieder stellen. Das sagt sie selber dazu. Mehr hier. 
  • Das russische Militär habe Luftlandetruppen an wichtige Frontabschnitte verlegt. Schlecht ausgebildetes Personal verwässere aber den Elitestatus der Einheiten, heißt es vom britischen Geheimdienst. Mehr hier.
  • Am Abend des 26. September soll in einem Wohnhaus in der ostukrainischen Stadt Kramatorsk eine Rakete eingeschlagen sein. Drei Zivilisten seien dabei verletzt worden. Die „New York Times“ (NYT) berichtet nun, dass es sich bei dem Geschoss um eine Luft-Boden-Rakete aus amerikanischer Produktion gehandelt habe. Die Journalisten stützen ihre Behauptung auf Gespräche mit Anwohnenden sowie Raketenresten. Mehr in unserem Newsblog hier.
  • Verteidigungsministerin Christine Lambrecht hat zurückhaltend auf Vorschläge der polnischen Regierung reagiert, von Deutschland angebotene Patriot-Flugabwehrsysteme doch besser der Ukraine zu überlassen. Die Patriots seien Bestandteil der integrierten Luftverteidigung der Nato und für Nato-Gebiet vorgesehen, sagte die SPD-Politikerin am Donnerstag in Berlin. „Und wenn die außerhalb des Nato-Gebietes eingesetzt werden, dann muss das vorher mit der Nato und mit den Alliierten besprochen werden“, sagte sie nach einem Gespräch mit ihrem estnischen Kollegen Hanno Pevkur.
  • Die russischen Öllieferung in die Slowakei über die Druschba-Pipeline durch die Ukraine sind unterbrochen worden. Das teilt der tschechische Pipeline-Betreiber Mero mit. Ursache seien Stromausfälle. Der Öltransport nach Tschechien laufe aber normal. 
  • Knapp einen Tag nach landesweiten russischen Raketenangriffen ist die Wasserversorgung in der ukrainischen Hauptstadt Kiew wieder hergestellt worden. „Doch braucht es eine gewisse Zeit, bis das Wasserleitungssystem wieder mit voller Leistung arbeitet“, warnte Bürgermeister Vitali Klitschko am Donnerstag im Nachrichtenkanal Telegram. Insbesondere in Hochhäusern reiche der Wasserdruck nicht immer aus.
  • Die drei nach russischen Angriffen vom Stromnetz getrennten ukrainischen Atomkraftwerke sind wieder ans Netz gegangen. Es sei gelungen, die drei von der Ukraine kontrollierten Anlagen am Morgen wieder anzuschließen, teilte das ukrainische Energieministerium am Donnerstag im Onlinedienst Telegram mit. Die AKWs dürften demnach ab dem Abend wieder Strom liefern.
  • Im von russischen Truppen befreiten Teil des südukrainischen Gebietes Cherson haben die Behörden nach eigenen Angaben Folterkammern und getötete Zivilisten entdeckt. „Es wurden die Leichen von 432 Zivilisten gefunden, die ermordet wurden“, teilte Generalstaatsanwalt Andrij Kostin am Donnerstag im Fernsehen mit. 
  • Das EU-Parlament hat Pläne für neue Milliardenkredite an die Ukraine gebilligt. Die bis zu 18 Milliarden Euro sollen es der von Russland angegriffenen Ukraine ermöglichen, laufende Ausgaben etwa für Krankenhäuser und Schulen zu decken. Das teilte das EU-Parlament am Donnerstag in Straßburg mit.
  • Russland hat nach eigenen Angaben mehr als 80.000 russische Pässe an Bewohner der vier von Moskau für annektiert erklärten ukrainischen Regionen ausgegeben. „Seit die vier Regionen der Russischen Föderation hinzugefügt wurden, und in Übereinstimmung mit dem Gesetz, erhielten mehr als 80.000 Menschen als Bürger der Russischen Föderation Reisepässe“, zitierten russische Nachrichtenagenturen am Donnerstag eine Beamtin des Innenministeriums.
  • Das russische Parlament hat am Donnerstag den Haushalt für das kommende Jahr verabschiedet - und dabei ein Defizit sowie einen Rückgang der Wirtschaftsleistung prognostiziert. „Das Budget war das schwerste der vergangenen Jahre: Sanktionen und die Entwicklung der Weltwirtschaft machen es praktisch unmöglich, es vorherzusagen“, sagte Duma-Chef Wjatscheslaw Wolodin laut einer auf der offiziellen Homepage der Duma veröffentlichten Mitteilung.
  • Frankreichs Präsident Emmanuel Macron hat die russischen Angriffe auf die ukrainische Strom- und Wasserversorgung als Kriegsverbrechen bezeichnet, die Konsequenzen haben müssten. „Heute fanden massive Bombenangriffe auf die Ukraine statt, wodurch große Teile des Landes ohne Wasser und Strom blieben“, sagte Macron am Mittwochabend. „Jeder Schlag gegen zivile Infrastruktur stellt ein Kriegsverbrechen dar und darf nicht ungestraft bleiben.“
  • Die jüngsten russischen Angriffe auf Elektrizitätswerke und andere Infrastruktureinrichtungen in der Ukraine haben bisher nicht dazu geführt, dass deutlich mehr Menschen aus dem Land in Deutschland Zuflucht suchen. Seit dem Höhepunkt im März sei die Zahl der bei der Einreise nach Deutschland oder im Inland von der Bundespolizei festgestellten Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine gesunken, teilte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums mit.

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