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Ein ukrainischer Soldat in Isjum inspiziert ein Kindergartenzimmer mit dem Zeichen „Z“ an der Tür, das von den russischen Streitkräften benutzt wurde.

© Foto: dpa/Evgeniy Maloletka

Ukraine jagt Kollaborateure: Die Suche nach Russlands Helfern spaltet ukrainische Gemeinden

Nach den Rückeroberungen im Nordosten suchen ukrainische Behörden die Komplizen der russischen Besatzer. Rechtliche Konsequenzen drohen - sowie soziale Ächtung.

47.000 Einwohner zählte die ostukrainische Stadt Isjum im Februar. Sieben Monate später sind es weniger als die Hälfte. Vor dem Einmarsch der russischen Armee im April hatten tausende Ansässige ihre Heimat verlassen. Doch diejenigen, die in Isjum zurückblieben, erlebten die Besatzung hautnah - und mussten eine Entscheidung fällen: Würden sie mit den Russen kollaborieren? Ja oder nein?

Für die stellvertretende Schulleiterin Ina Mandryka kam die Entscheidung in Form eines Angebots. Die russischen Funktionsträger machten ihr einen Vorschlag: Wenn sie sich bereit erkläre, ihren Unterricht auf Russisch zu führen, dürfte sie die Schule wieder öffnen - und eine Beförderung zur Schulleiterin erwarten.  

Die Entscheidung fiel Mandryka einfach. „Ich habe abgelehnt“, sagte sie im Interview mit der US-Zeitung „The New York Times“. „Den russischen Lehrplan zu unterrichten, ist ein Verbrechen.“ Und so blieb die Schule geschlossen. 

Anders entschied sich die Grundschullehrerin Iryna Overedna. „Die Lehrerin in mir dachte: ‘Die Kinder sollten in der Schule sein’“, erzählte sie der US-Zeitung. Als die russischen Besatzer ihr also ein ähnliches Angebot wie Mandryka machten, nahm sie an. Kurz darauf reiste sie nach Kursk im Südwesten Russlands, um das russische Kurrikulum zu lernen.

„Was wenn die Besatzung Jahre lang angehalten hätte?“, verteidigt die Lehrerin ihre Entscheidung. „Mein Ziel war es, zu überleben. Um den Winter zu überleben, hätte ich etwas zu essen gebraucht. Um zu essen, hätte ich arbeiten müssen. Um zu arbeiten, musste ich zur Konferenz fahren.”  

Im Zuge der Gegenoffensive haben ukrainische Truppen in den vergangenen Wochen zahlreiche Ortschaften im Nordosten des Landes zurückerobert. Seit dem 10. September - fünf Monate nach der russischen Besatzung - weht auch in Isjum wieder die ukrainische Flagge am Rathaus.

Für die Einwohner, die die ukrainischen Soldaten mit offenen Armen und Tränen in den Augen begrüßten, symbolisierte die Befreiung der Stadt auch eine Befreiung aus der Angst, der Hoffnungslosigkeit. Doch nur kurz.

Unter russische Besatzung: Eine Zeit der Kollaboration

Für viele Ukrainer begann mit der Besatzung ein dunkles Kapitel der Zusammenarbeit mit den Russen - eine „Zusammenarbeit“, für die sie sich nun nach der Befreiung rechtfertigen müssen. Denn nach dem Gesetz „Unterstützung und Komplizenschaft mit dem Aggressorstaat“ ist die Kriegskollaboration mit Russland strafbar.  

Ärzte, Feuerwehrkräfte und Mitarbeiter der Versorgungsunternehmen schließen die ukrainischen Behörden von der Regelung aus; ihre Arbeit gilt als essenziell für das weitere Fortbestehen einer Stadt. Polizeibeamte und Mitarbeiter der Kommunal- oder Regionalverwaltung aber, die ihre Tätigkeiten mit den Russen fortsetzten, werden als Kollaborateure klassifiziert.

Und Lehrer wie Iryna Oyeredna? „Das sei eine schwierige Frage“, sagte Volodymyr Lymar, stellvertretender Staatsanwalt für die Region Charkiw, der „New York Times“.  

Eine Mutter in Isjum bereitet Essen für ihre 9 Monate alte Tochter zu.
Eine Mutter in Isjum bereitet Essen für ihre 9 Monate alte Tochter zu.

© Foto: dpa/Evgeniy Maloletka

Wie das US-Medium berichtet, herrscht in Behördenkreisen scharfe Kritik gegen Lehrer, die den russischen Anweisungen folgen. Die Verbreitung des russischen Kurrikulums stehe in direkten Zusammenhang mit dem russischen Kriegsziel: die ukrainische Identität auszulöschen. Der Ombudsmann für Bildung, Serhiy Horbachow, fordert deshalb: „Diese Leute dürfen auf keinen Fall mit ukrainischen Kindern arbeiten. Das wird eine sehr schwierige und schmerzhafte Geschichte.“  

Ukrainischen Angaben zufolge befinden sich noch etwa 1200 Schulen im besetzten Gebiet. Ungefähr 65 Schulen hätten im Zuge der Gegenoffensive befreit werden können. Einige Schulen sollten zum 1. September wieder öffnen - mit russischem Lehrplan und knapp 200 Lehrern. Nach Einbruch der ukrainischen Streitkräfte machten die Lehrstätten nur wenige Tage später wieder zu.

Laut Lymar würde bei den Lehrkräften auf individueller Basis beurteilt, inwiefern sie an der Verbreitung „russischer Propaganda für Kinder“ beteiligt gewesen seien und dementsprechend ein Strafmaß gesetzt.

Der Vorwurf der Kollaboration spielt Einwohner gegeneinander aus

Wie die britische Zeitung „The Guardian“ am 13. September berichtete, sind zahlreiche mutmaßliche Kollaborateure aus den befreiten Gebieten nach Russland geflohen - um Vergeltung und Bestrafung zu entkommen. Komplizen der Besatzer drohen aber nicht nur rechtliche Konsequenzen. Seit den Rückeroberungen spalten Vorwürfe, Ausgrenzung und Misstrauen die Einwohner.

“Wäre es euch lieber gewesen, wenn ich gestorben wäre?”, verteidigte sich die 55-Jährige Switlana Fitscher nur wenige Tage nach der Rückeroberung Isjums. Wie die Nachrichtenagentur AFP berichtete, hatten sich mehrere Einwohner vor dem Rathaus versammelt, um Hilfe von den ukrainischen Behörden zu fordern. Stattdessen brach Streit aus.

Eine Frau trägt humanitäre Hilfsgüter zum Verteilungspunkt in der kürzlich zurückeroberten Stadt.
Eine Frau trägt humanitäre Hilfsgüter zum Verteilungspunkt in der kürzlich zurückeroberten Stadt.

© Foto: dpa/Evgeniy Maloletka

„Wollt ihr wissen, ob ich für die Russen bin? Ist das die Frage?“, rief Fitscher. „Nein, tut mir leid, ich bin für mein Land.“ 

Andere Versammelte hatten der 55-Jährigen vorgeworfen, Rationen von den Besatzern angenommen zu haben. „Sie hat die Ukraine für Essen verraten“, sagte eine Frau laut AFP. Eine andere Frau ging dazwischen: „Und was habt ihr denn die ganze Zeit gegessen?“

 Wollt ihr wissen, ob ich für die Russen bin? Ist das die Frage?

Switlana Fitscher, Einwohnerin Isjum

Auch Serhiy Saltivskyi sind solche Schimpfattacken nicht fremd. Während der Besatzung hatte er der russischen Armee geholfen, Leichen mit seinem Lastwagen zu transportieren. Im Gegenzug erhielt er eine „Arbeitsration“, bestehend aus zusätzlichen Spaghetti-Packungen und Rindfleisch-Dosen.  

Nur wenige Tage nach der Rückeroberung Isjums hatten ukrainische Behörden mehr als 400 Gräber in einem Wald außerhalb der Stadt entdeckt. Die russischen Besatzer hatten in der warmen Jahreszeit angeordnet, die Leichen von Kriegsopfern, die ursprünglich in Parks und Gärten innerhalb der Stadt beerdigt wurden, in dem Wald zu begraben.

„Du kannst eine Stadt nicht in einen Friedhof verwandeln“, verteidigte Saltivskyj seine Entscheidung gegenüber der „New York Times“. „Es waren auch Frauen und Kinder dabei, das war hart, aber wer sollte es sonst tun?“  

Die extra Rationen hätten Saltivskyj am Leben gehalten. Doch sie hätten ihren Preis. „Jetzt kommen Menschen auf der Straße auf mich zu, zeigen ihren Finger auf mich und sagen: ‘Das ist er!’“ 

Rettungskräfte tragen Leichen nach der Exhumierung auf einem Friedhof in der kürzlich zurückeroberten Stadt Isjum  in einen Kühlwagen.
Rettungskräfte tragen Leichen nach der Exhumierung auf einem Friedhof in der kürzlich zurückeroberten Stadt Isjum in einen Kühlwagen.

© Foto: dpa/Evgeniy Maloletka

„Jede Person hat ihr Schicksal selbst gewählt“

Nur die wenigsten im ehemaligen Besatzungsgebiet scheinen Verständnis für die Entscheidungen ihrer Freunde, Kollegen und Nachbarn aufbringen zu können. „Jede Person hat ihr Schicksal selbst gewählt“, schätzt Oksana Hrizodub die Lage ein.

Die Lehrerin russischer Literatur hatte sich geweigert, auf Anforderung der Besatzer Russisch zu unterrichten. Sie würde aber die Menschen, die sich zur Zusammenarbeit mit den Russen entschieden, nicht verurteilen. “Für die Menschen, die hier festsaßen, ist es ihre persönliche Angelegenheit.”

Viele Kollaborateure bereuen ihre Entscheidungen nicht. So etwa Jelena Jewmenowa, die Verwalterin eines Wohnblocks in Isjum. Sie hatte den russischen Besatzern eine Liste aller Hausbewohner übergeben - im Austausch gegen humanitäre Hilfe. „Sollen sie uns doch beschuldigen, wir hätten russisches Dosenfleisch gegessen.“ 

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