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Besucher am Berliner Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma

© Doris Spiekermann-Klaas TSP

Vertrag mit dem Staat in Sicht: Ein Generationenkonflikt spaltet Sinti und Roma

Ein Staatsvertrag auf Bundesebene könnte die Lage von Sinti und Roma dauerhaft verbessern und ihnen Anerkennung bringen. Doch die Minderheit ist inzwischen sehr vielfältig geworden. Wer darf verhandeln?

| Update:

Sinti und Roma stehen vor einem womöglich entscheidenden Schritt, um ihre Lage zu verbessern: Die Minderheit soll einen Vertrag mit dem deutschen Staat bekommen.

Ein Staatsvertrag würde ihre Traditionen unter öffentlichen Schutz stellen, sicherstellen, dass sie gehört werden, wenn ihre Belange betroffen werden, vor allem aber ihre gesellschaftliche Randständigkeit beenden helfen.

Sinti und Roma, „Zigeuner“, wie man sie jahrhundertelang verächtlich nannte, leben seit 600 Jahren in Deutschland, ihre soziale Lage, Einkommen, Bildungsbeteiligung liegen bis heute dramatisch hinter dem Durchschnitt zurück. Folge von Hass und Verachtung über Jahrhunderte in ganz Europa, die in Deutschland mit der Verfolgung unter den Nazis weder begann noch endete.

Weiterhin dramatische Bildungssituation

In einer eigenen Studie vor einigen Jahren kam heraus, dass zehn Prozent der 14- bis 25-Jährigen und 40 Prozent der über 51-Jährigen nicht einmal in der Grundschule waren. Ein Drittel der Minderheit lebt in Europa nach wie vor in Ghettos. Die Europäische Kommission mahnte neben anderen EU-Mitgliedsstaaten auch Deutschland, dass die Fortschritte zur Verbesserung der Lage viel zu klein blieben.

Doch ausgerechnet jetzt, da die Schritte größer werden könnten, droht ein schon nicht mehr ganz junger Konflikt der Generationen und Interessen innerhalb der Minderheit offen aufzubrechen. Der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma, ihr jahrzehntelang praktisch unangefochtener Repräsentant, beansprucht für die Verhandlungen zum Staatsvertrag die Alleinvertretung der Community.

Was wir aber nicht nachvollziehen können, ist, warum diese neu gegründeten Vereine (...) eine solche Aufwertung bekommen vonseiten der Politik.

Romani Rose, Vorsitzender der Zentralrats Deutscher Sinti und Roma

Das geht jedenfalls aus einem Brief des Zentralratsvorsitzenden Romani Rose an Ex-Bundestagspräsidentin Rita Süssmuth und den früheren SPD-Bundestagsabgeordneten Gert Weisskirchen hervor, der dem Tagesspiegel vorliegt.

Ex-Bundestagspräsidentin Süssmuth schaltet sich ein

Beide engagieren sich seit Jahren für die Rechte von Sinti und Roma und hatten sich eingeschaltet, um alte und neue Akteur:innen der Minderheit am heutigen Mittwoch zu einem Gespräch über Eckpunkte eines Vertragsentwurfs ins Gespräch zu bringen. „Wir versuchen zu unterstützen, wo wir können“, hieß es in ihrem Einladungsschreiben an den Zentralrat und weitere Verbände.

Doch Rose sagte ab. In seiner Antwort auf die Einladung der beiden Politiker:innen auch an ihn äußert er Unverständnis für die Einbeziehung anderer Organisationen der Sinti und Roma von Regierungsseite.

Er könne „nicht nachvollziehen (...), warum diese neu gegründeten Vereine, die sich lediglich als Konkurrenz zum Zentralrat verstehen, wie zum Beispiel durch die Forderung eines Staatsvertrages, ein solches Gewicht und eine solche Aufwertung bekommen vonseiten der Politik“. Das erschwere und lähme die Arbeit des Zentralrats, „einer national und international anerkannten Organisation“.  

Der 76-jährige Romani Rose führt den Zentralrat seit dessen Gründung vor mehr als vierzig Jahren; er war einer der wesentlichen Akteure der Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma in Deutschland, die in den 1970er Jahren begannen, sich gegen die Fortdauer des NS-Unrechts in der Bundesrepublik zu wehren.

Die Community ist bunter geworden

Obwohl etwa eine halbe Million Angehörige der Minderheit dem NS-Völkermord zum Opfer fielen, wurde der Genozid nicht anerkannt, geraubtes Vermögen der Toten und Entrechteten nicht zurückerstattet, sie erhielten meist weder Opferrenten noch Entschädigung.

In den letzten Jahren ist die deutsche Community jedoch gewachsen und diverser geworden. Eine neue, jüngere Generation besteht teils aus eingewanderten EU-Bürger:innen, neue Interessenvertretungen und Kultur- und Bildungsinitiativen gründeten sich. Nicht wenige sehen sich nicht oder nicht mehr ausreichend vom Zentralrat vertreten.

Zwei Verbände sind sich bereits einig

So sind zum Beispiel die Landesverbände von Berlin-Brandenburg, Niedersachsen und Baden-Württemberg nicht mehr unterm Dach des Zentralrats, vor zwei Jahren gründete sich ein neuer Bundesverband, die Bundesvereinigung der Sinti und Roma. In die seit fünf Jahren laufenden Verhandlungen um den Staatsvertrag will auch die staatliche Seite mehr Mitspieler einbeziehen.

Am Mittwoch einigten sich zwei Bundesorganisationen der Minderheit: Die Bundesvereinigung der Sinti und Roma und die durch ihre Vorsitzenden Oskar Weiss und Peter Richter vertretene Sinti Allianz in Berlin auf Eckpunkte für einen Staatsvertrag. Sie erwarten Förderung ihrer kulturellen und sozialen Belange - auch ein Museum ist angedacht - staatlichen Schutz für die Minderheit und wollen ihrerseits eine gemeinsame Repräsentanz gründen.

Sie soll den Vertrag mit dem Staat verhandeln, aber auch in der Folge dessen Ansprechpartnerin bleiben. Kelly Laubinger, Ko-Vorsitzende der Bundesvereinigung, sprach von einem historischen Moment.

Bundesregierung spricht mit allen und erwartet Einigung

Die Tür für den Zentralrat soll offen bleiben. „Die Einladung steht, daran wird sich nichts ändern“, sagte Gastgeber Gert Weisskirchen. Man wünsche sich „von Herzen“, dass gerade die älteste und verdienstvolle Vereinigung der Minderheit mit dabeisei.

Auch die staatliche Seite scheint darauf zu setzen, dass Sinti und Roma sich einigen - und lässt durchblicken, dass sie deren Vielfalt bei den Verhandlungen Rechnung tragen will: Man pflege „einen engen Austausch mit den Selbstorganisationen der Sinti und Roma“, sagte ein Sprecher des Bundesinnenministeriums dem Tagesspiegel.

„Es liegt im Interesse der Bundesregierung, dass die zwischen den beteiligten zivilgesellschaftlichen Organisationen derzeit noch bestehenden unterschiedlichen Auffassungen zum Inhalt eines Staatsvertrages zügig ausgeräumt werden.“

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