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Wahlrecht: Negative Stimmen mit Gewicht

Mehrere Rechtsexperten lassen bei einer Bundestagsanhörung das geplante neue Wahlrecht durchfallen.

Berlin - Hans Meyer freut sich schon auf seinen nächsten Auftritt in Karlsruhe. Der Jurist und frühere Präsident der Humboldt-Universität ist beim Bundesverfassungsgericht kein Unbekannter: Er vertrat dort 2008 die Klage gegen das Bundeswahlgesetz, mit dem Ziel, das negative Stimmgewicht zu beseitigen. Es handelt sich dabei um einen verzerrenden Effekt, der dazu führen kann, dass eine Partei trotz einem Mehr an Stimmen weniger Sitze bekommt – oder umgekehrt. Gemeinhin tritt dieser Effekt im Zusammenhang mit Überhangmandaten auf, und eine von mehreren Ursachen dafür ist wiederum die Möglichkeit des Stimmensplittings dank des Zweistimmensystems. Am Montag war Meyer als einer der Sachverständigen zur Anhörung in den Bundestagsinnenausschuss geladen. Denn die Klage 2008 hatte zur Folge, dass Karlsruhe das bestehende Wahlrecht für verfassungswidrig erklärte und eine Neuordnung verlangte.

Was die schwarz-gelbe Koalition vorgelegt hat, ist laut Meyer wieder verfassungswidrig. Weil das negative Stimmgewicht gar nicht beseitigt sei. Und die umstrittenen Überhangmandate bestehen blieben, deren Zahl die vom Verfassungsgericht gesetzte Grenzmarke schon streife und die mittlerweile von der Ausnahme zur Regel geworden seien. „Wir sehen uns dann in Karlsruhe“, meinte der streitbare Verfassungsrechtler. Im Übrigen plädierte er – wie andere Sachverständige auch – für eine schnelle Abkehr vom Zweistimmenmodell. „Sie könnten sich einigen Ärger sparen, wenn Sie wieder zurückkommen auf die Weisheit des Wahlrechts von 1949“, appellierte Meyer an die Abgeordneten. Bei den ersten beiden Bundestagswahlen genügte noch ein Kreuzchen. Aber vom Einstimmenwahlrecht will im Bundestag keine Partei etwas wissen – sie scheuten das Thema „wie der Teufel das Weihwasser“, schimpfte Meyer.

Auch die Frankfurter Rechtswissenschaftlerin Ute Sacksofsky bemängelte den schwarz-gelben Entwurf, auch sie sieht ein neues Klageverfahren voraus. Das Problem der Überhangmandate werde nicht angegangen. Meyer sprach polemisch sogar von einem „Überhangmandatesicherungsgesetz“. Positiver äußerte sich der Heidelberger Juraprofessor Bernd Grzesick: Von allen Entwürfen – auch SPD, Grüne und Linke haben neue Wahlgesetze formuliert – genüge der schwarz-gelbe Entwurf den Anforderungen des Verfassungsgerichts am ehesten. Karlsruhe habe, betonte Grzesick, Überhangmandate nicht verboten.

Zwar gab es wenig prinzipiellen Widerspruch gegen den Ansatz von Union und FDP, wie vor 1957 keine Listenverbindungen über die Länder hinweg zuzulassen und in 16 Wahlgebieten wählen zu lassen. Damit ist das negative Stimmgewicht weitgehend ausgeschaltet. Doch die auf Druck der FDP entworfene Reststimmenverwertung wurde von einigen Sachverständigen kritisch beleuchtet. Dabei werden Stimmen einer Partei, die in den Ländern nicht mehr für einen Sitz reichen, bundesweit addiert, um damit Zusatzsitze für die Partei zu schaffen. Damit kann aber das negative Stimmgewicht wieder eintreten. Zudem passt es laut Sacksofsky nicht zum gegenwärtigen Auszählsystem im Wahlrecht. Der Augsburger Mathematiker Friedrich Pukelsheim wunderte sich, dass diese Reststimmenverwertung überhaupt eingeführt werden soll. Denn gegenüber dem Status quo ergäbe sich kaum eine Veränderung bei den Sitzen. Da stelle sich die Frage, welchen Zweck das Reststimmenverfahren dann habe.

Dem Karlsruher Anliegen kommen die Vorschläge von Linken und Grünen am nächsten, da waren sich die meisten Gutachter einig. Doch gab es Kritik daran, dass der Länderproporz erheblich verzerrt werden könne. Der SPD-Vorschlag beseitigt das negative Stimmgewicht überhaupt nicht – ob die geplanten Ausgleichsmandate letztlich zu einer verfassungskonformen Regelung führen, blieb am Montag strittig. Der Chemnitzer Politologe Gerd Strohmeier wandelte als Fazit ein klassisches Churchill-Zitat ab: Der schwarz-gelbe Entwurf sei „der schlechteste – mit Ausnahme aller anderen“.

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