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Edmund Stoiber will weg vom Zentralisierungswahn in Europa.

© Paul Zinken/dpa

Edmund Stoiber: "Wir brauchen Volksentscheide auch auf Bundesebene"

Der frühere bayerische Ministerpräsident sieht die Europäische Union zu weit weg von den Menschen. Das Volk solle etwa zum EU-Beitritt der Türkei befragt werden, sagt Edmund Stoiber.

Herr Stoiber, ist Europa gescheitert?

Natürlich nicht. Die große Idee Europas: Frieden, Freiheit, Wohlstand, solidarisches Miteinander und Europa als Gestalter in der Welt – das wird auch nach dem Brexit fortbestehen.

Sie selbst sagen, Europa war, beginnend mit den römischen Verträgen von 1957, ein politisches Projekt vernünftiger Politiker. Also explizit keines der Bürger.

Richtig. So war die Geschichte, der Gang der Dinge. Die Europäische Gemeinschaft, dann die Europäische Union und die Währungsunion, das war keine Bewegung der Völker. Der Beginn Europas mit der Montanunion hätte nie gelingen können, wenn es damals schon Volksentscheide gegeben hätte. Damals dachte man, jede europäische Regelung ist per se gut für Europa.

Die Gründerväter waren misstrauisch den Bürgern gegenüber, das war auch den Erfahrungen im Nationalsozialismus geschuldet. Ist nicht genau dieses Misstrauen zum Bumerang geworden, der die Union dauerhaft kaputt machen wird?

Ich will es so sagen: Die Bürgerinnen und Bürger in Europa waren es nicht, die Druck für eine politische Union gemacht haben. Es waren die großen Europäer wie etwa Mitterand und Kohl. Vielleicht waren die Deutschen, aufgrund ihrer Geschichte, die einzigen, die beseelt von dieser europäischen Idee waren. Die anderen haben weniger gehadert mit ihrer eigenen Identität. Bis in die 80er Jahre hinein dachte auch Kohl, man könne so etwas wie die Vereinigten Staaten von Europa schaffen.

Warum geht das nicht?

Weil wir zu unterschiedlich sind. Die Menschen wollen mehr partizipieren, wollen sich einbringen, und zwar genau deshalb, weil so viele Jahre lang immer mehr in Brüssel zentralisiert worden ist. Die Menschen wollen Europa verstehen und gestalten. Aber das ist in einem Europa der jetzt 27 viel schwieriger als auf nationaler Ebene. Die Entscheidungsprozesse in der EU sind für den Bürger nicht nachvollziehbar, und das Europäische Parlament wird von vielen Menschen nicht, so wie etwa der Deutsche Bundestag, als ihr Repräsentant gesehen.

Man kann nicht einerseits sagen, wir überlassen alles weiter den politischen Eliten und dann klagen, dass die Bürger das nicht gut finden. Wo ist der Ausweg?

Der Brexit ist eine Zäsur, und wir müssen zugeben, dass wir zu viel zentralisiert haben, dass Europa zu weit weg ist von den Menschen. Europäische Entscheidungen werden oft nicht mehr als Entscheidungen für die Menschen wahrgenommen, sondern sind abstrakt. Das ist eine erschreckende Entfremdung. Das muss sich ändern.

Wie denn?

Die meisten Verantwortlichen in Brüssel, an der Spitze Martin Schulz und Jean-Claude Juncker, rufen jetzt nach noch mehr Zentralisierung, noch mehr Kompetenzen, jetzt müsse unbedingt ein europäischer Finanzminister her. Das ist aber grundfalsch.

Stattdessen?

Atempause…

Wie es Helmut Kohl gesagt hat?

Aber ja. Ich war wirklich begeistert, ausgerechnet Kohl sagt, gehen wir einen Schritt zurück, um dann langsam nach vorne zu gehen. Das ist im Übrigen auch eine Abkehr seiner ursprünglichen Überzeugungen, nämlich der stetigen Vertiefung der EU.

Wenn sie von Kohl begeistert waren, waren Sie es auch von Merkels Regierungserklärung?

Die war in Ordnung…

Hört sich nach drei minus an…

…Nein, die Schlussfolgerungen sind ja richtig. Wir haben ein vollkommen unerwartetes Ergebnis, das viele Konsequenzen für alle Beteiligten haben wird. Also ist es schon richtig, zunächst ruhig zu bleiben und einzelne Handlungsabfolgen zu erläutern. Aber Europa ist eben nicht nur ein ökonomisches Projekt, sondern es braucht Empathie und Leidenschaft. Politik darf nicht nur vernunftgesteuert sein, die Emotio gehört dazu.

Die hat Ihnen bei Merkel gefehlt?

Wir müssen doch sehen, dass Europa keine Eliteveranstaltung werden darf. Es gibt ein Unten und Oben, es gibt soziales Gefälle, es gibt Sorgen der kleinen Leute nicht nur, was die Zuwanderung und die Flüchtlingsfrage angeht. Das müssen wir ansprechen, davor dürfen wir nicht zurückschrecken.

Es geht um die soziale Frage?

Es geht um die Polarisierung von oben und unten. Wir haben eine Reihe von Menschen in Großbritannien, aber auch in Deutschland, die sich vieles nicht leisten können, anders als die Banker in der City of London. Und diese Menschen wollen Lösungen haben. In Großbritannien geht es der Hälfte der rund 22 Millionen Haushalte schlechter als vor fünf Jahren. Auch das haben die Leute mit dem Brexit angesprochen. Wenn wir diese Menschen nicht vertraut machen können mit europäischer oder nationaler Politik, verliert die Demokratie an Substanz. Dafür braucht es Empathie und Verständnis, nicht Ausgrenzung.

Aber was ist denn nun das Besondere, Andere, das es nach dem Brexit zu betonen gilt?

Es wurde schon oft genug gesagt, aber ich sage es wieder: Subsidiarität. Das ist und bleibt der Schlüssel für mehr Vertrauen. Gerade hat der Premierminister der Slowakei, die jetzt den Ratsvorsitz innehat, erklärt, dass künftig die nationalen Ebenen wieder mehr Dinge entscheiden sollen. Es muss Schluss sein mit diesem Zentralisierungswahn. 85 Prozent aller Entscheidungen in Form von Gesetzen und Verordnungen haben heute ihren Impuls aus Brüssel. Bis hin zur Schnullerkettenverordnung von 52 Seiten.

Was müssen denn die Kernaufgaben Europas sein?

Europa muss in der Migrations- und Sicherheitspolitik gemeinsame Lösungen finden und durchsetzen. Und jeder muss sich an die Regeln halten, die sich Europa gegeben hat, vor allem die der Fiskalpolitik.

Das ist dann also die neue Erzählung, die neue Vision, die jetzt alle, von links bis rechts, sie eingeschlossen, fordern?

Nein. Das reicht nicht. Wir müssen aber auch nichts neu erfinden, wir haben ja eine gute Erzählung: Wir brauchen nur eine emotionale Bindung, eine neue Empathie, eine Rückbesinnung auf sie: Freiheit und Frieden sind die Grundfesten dieser Erzählung. Wir sind ein Kontinent geworden, ein geeinter Kontinent, eine Wertegemeinschaft, das ist doch eine großartige Geschichte. Denn das ist in der Welt nicht selbstverständlich. Diese Geschichte zu erzählen, das ist auch die Aufgabe der Kanzlerin und aller anderen gewählten 27 Regierungschefs.

Die rechten Populisten haben ja große Emotionen und Visionen: einen gesunden, prosperierenden, möglichst ohne Zuwanderung funktionierenden Nationalstaat.

Das ist ein Problem. Viele Menschen fürchten sich. In England, in Deutschland, anderswo. Die Globalisierung macht ihnen Angst, die Flüchtlinge, die kommen, auch. Wir müssen den Menschen sagen, dass wir nur als geeintes Europa ein Garant für ihre Interessen sein können. Im Gespräch mit den großen Playern, Amerika, China, Asien. Die Europäer können dort nur mitreden, wenn wir geeint sind. Das müssen wir klarmachen.

Wo liegt die deutsche Verantwortung am Brexit?

Wenn die britische Innenministerin und Favoritin auf die Cameron-Nachfolge, Theresa May, wie im Herbst 2015 im Unterhaus eine Debatte auslöst über die Flüchtlingsströme und das Verhalten Deutschlands, und sie erklärt: „Germany is crazy…“, dann muss das zu denken geben.

Das heißt genau?

Die Flüchtlingssituation hat die mangelnde Lösungskompetenz Europas allen Bürgern vor Augen geführt. Auch wir Deutschen haben es ja nicht geschafft zu erklären, dass wir, die Briten oder die Franzosen allein national den Terrorismus nicht bekämpfen können. Wir haben nicht ausreichend erklären können, dass wir die Flüchtlingsfrage national nicht lösen können. Zudem liegt eine Verantwortung darin, dass wir uns sehr spezifisch in der Flüchtlingsfrage verhalten haben, was andere nicht geteilt haben.

Hat Merkels Flüchtlingspolitik, ihr „humanitärer Imperativ“, den Brexit erst möglich gemacht?

Nein. Das ist falsch. Zuwanderung war schon die ganze Zeit das Thema in Großbritannien. Den Brexit kann man Frau Merkel nun wirklich nicht anlasten. Wir müssen uns aber fragen, wie Humanität und Machbarkeit zu vereinen sind. Und dabei muss man die Menschen einladen, mitzumachen bei dieser Frage. Dann gibt es Debatten und Streit, aber das muss man wiederum aushalten. Das gehört zu einer Demokratie.

Demnächst entscheiden die Ungarn in einem Referendum darüber, ob Brüssel ihnen Flüchtlingskontingente vorschreiben darf. Sehen Sie die Gefahr einer Erosion der repräsentativen Demokratie?

Gar nicht. Ich finde, dass die repräsentative Demokratie die Möglichkeit braucht, die Menschen bei bestimmten Entscheidungen zu fragen. Wir brauchen grundsätzlich solche Volksentscheide in engen Grenzen auch endlich auf Bundesebene. Und zwar als Stärkung und Stütze der repräsentativen Demokratie.

Haben Sie ein Beispiel?

Erweiterung der Europäischen Union. Wir sollten das Volk bei der Frage des Beitritts der Türkei fragen.

Der deutsche Brexit heißt AfD. Wird der die andere Union, die CSU/CDU dauerhaft spalten?

Nein. Aber ich muss die Auseinandersetzung leidenschaftlich führen.

Beherzigt denn die CDU nach Potsdam den alten Leitsatz von Franz-Josef Strauß, dass rechts der Union keine demokratisch legitimierte Partei sein darf?

Wir haben darüber debattiert. Wir werden schauen, wie sich das konkret in einem gemeinsamen Wahlprogramm niederschlägt.

Nur die AfD ist unterscheidbar, das macht sie im Vergleich zu den etablierten Parteien attraktiv.

Wir müssen als Union emotionale Diskussionen über konkrete Themen zulassen. Allein die Aussage, dass der Islam zu Deutschland gehört, wird politisch kaum diskutiert, sondern hingenommen. Auch von der Bundesregierung. 85 Prozent der Menschen in Deutschland halten das für falsch. Als die CSU darauf hingewiesen hat, wurde sie dafür scharf kritisiert.

Herrscht in der CDU zu große Angst vor einer Konfrontation mit Teilen der großen Mitte?

Wir brauchen die Konfrontation. Sie gehört zur Politik. Für 50 Prozent der Bevölkerung ist die Lösung der Flüchtlingsfrage am wichtigsten. Wenn das so ist, muss ich als Politik damit umgehen. Deshalb haben wir um Obergrenzen gestritten und für Grenzkontrollen. Ich muss darüber auch mit der AfD streiten. Denn selbst wenn alle AfD-Führer rechtsradikal wären, so wären es nicht alle Bürger, die sie wählen.

Ist es die historische Verantwortung der Union und ihrer Vorsitzenden, die AfD aus dem Bundestag zu halten?

Ja, das ist unsere Verantwortung! So wie wir Ende der 60er Jahre die rechtsradikale NPD im Bundestag verhindert haben und in den 80er Jahren die Republikaner.

Was wird im Wahlkampf auf die Union zukommen?

Ich bin der festen Überzeugung, dass es einen Lagerwahlkampf geben wird. Die SPD will die große Koalition offenbar nicht mehr. Rot-Rot-Grün ist eine Alternative zur großen Koalition. Und wir müssen uns darauf einstellen.

Ist sich die Union einig, einen gemeinsamen Wahlkampf zu führen?

Die Beteiligten wollen, ob wir einig werden, werden wir sehen.

Braucht die CSU einen eigenen Spitzenkandidaten?

Erstmal muss sich Frau Merkel entscheiden. Sie muss sagen, ich bin bereit, nach zwölf Jahren weiter die Verantwortung zu übernehmen. Bis dahin schauen wir mal.

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