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Immer wieder kommt es zu Handgemengen.

© AFP / INA FASSBENDER

„Wir sind auf der richtigen Seite der Geschichte“: Der Kampf um Lützerath hat begonnen

Nach wochenlanger Vorbereitung überrascht die Polizei die Aktivisten im Braunkohledorf Lützerath. Gegen die Räumung protestieren inzwischen auch Prominente.

Es hat einen Hauch von Titanic-Untergangsstimmung. Als die Polizisten am frühen Morgen brennende Barrikaden durchbrechen und in den unbewohnten, aber besetzten Weiler Lützerath eindringen, fliehen viele Klimaaktivisten in ihre Baumhäuser und verschanzen sich. Während die Polizei am Boden mit der Räumung beginnt, spielen zwei Aktivisten in den Bäumen ein Geigenkonzert.

Auf einem Livevideo der Organisation „Lützerath bleibt“ ist die Szene zu beobachten und eine Sprecherin kommentiert in Richtung Polizei. „Ihr habt vielleicht Hundertschaften aus Berlin und Hamburg und einen Toilettenwagen aus Thüringen“, sagt sie: „Aber wir sind auf der richtigen Seite der Geschichte.“

Der Untergang von Lützerath an der Abbruchkante zum Tagebau Garzweiler hat am Mittwoch bereits vor dem Morgengrauen begonnen. Der Energiekonzern RWE will das Dorf abbaggern lassen, um an die Millionen Tonnen Kohle darunter heranzukommen. Dafür hat sich RWE verpflichtet, bereits 2030 statt 2038 aus der Kohle auszusteigen.

Das Recht hat RWE auf seiner Seite, doch die Klimabewegung vor Ort will das nicht akzeptieren und macht seit Wochen mobil gegen die Räumung.

Die Polizei rückt über eine Rampe vor

Doch an diesem Mittwochmorgen überrascht die Polizei die Aktivisten, indem sie mit hunderten Fahrzeugen nicht über die Straße, sondern durch den Braunkohlebau anrücken und über eine eigens errichtete Rampe an das Dorf heranfahren.

Anfangs kommt die Polizei, die mit mehr als 1000 Kräften im Einsatz ist und Verstärkung aus 14 Bundesländern geordert hat, gut voran, kann einen Kreis um Lützerath ziehen. Von nun an kommen Demonstranten nur noch aus dem Kessel heraus.

Taktisch war das ein cleverer Zug.

Michael Mertens, GdP-Landesvorsitzender in NRW, lobt den Polizeieinsatz.

„Taktisch war das ein cleverer Zug“, sagt Michael Mertens, Vorsitzender der Gewerkschaft der Polizei in NRW, der den Einsatz vor Ort verfolgt. Doch bei friedlichen Geigenkonzerten bleibt es im Zuge der Räumung nicht. Feuerwerksraketen werden auf Einsatzkräfte geschossen, es kommt zu Handgemengen, die Polizei spricht von Stein- und Moltowcocktail-Würfen.

Habeck verteidigt den Deal mit RWE

Am Nachmittag beruhigt sich die Lage zunehmend, Stück für Stück werden Sitzblockaden aufgelöst. Ein Polizeisprecher äußert sich zufrieden: „Für die Polizei läuft bislang alles nach Plan“, sagt er. Zu verletzten Polizisten und Aktivisten lägen ihm bisher keine Informationen vor.

Polizisten und ein Kinderbuggy in Lützerath.

© TENZIN HEATHERBELL

Auch zu möglichen Festnahmen könne er noch nichts sagen. „Wir haben hier ganz überwiegend friedlichen Protest erlebt, in Sitzblockaden, auf Tripods – und das sind Protestformen, mit denen wir super parat kommen“, sagt er der Deutschen Presseagentur.

Lützerath, wo keiner mehr wohnt, ist aus meiner Sicht das falsche Symbol.

Vizekanzler Robert Habeck verteidigt die Räumung von Lützerath.

Wie viele Menschen sich in den Gebäuden und Baumhäusern noch verschanzt halten, bleibt unklar. Vier bis fünf Wochen könnte der Einsatz dauern, hatte die Polizei Koblenz vorab prognostiziert, auch weil die Tage sehr kurz sind und die Polizei vorsichtig sein muss, um Unfälle zu vermeiden. „Gründlichkeit geht vor Schnelligkeit“, sagt auch Michael Mertens.

Der Protest gegen die Abbaggerung findet auch außerhalb von Lützerath statt. 200 Prominente fordern die Bundes- und Landesregierung von NRW am Mittwoch in einem offenen Brief auf, die Räumung zu stoppen.

„Lützerath kann zu einem Moment der Zukunft, des klimapolitischen Aufbruchs und der Demokratie werden – oder zu einem verheerenden Signal, wenn hier Konzerngewinne über den Schutz des Allgemeinwohls gestellt werden“, heißt es in dem Brief, der von Bands wie Deichkind, Sportfreunde Stiller und Revolverheld, aber auch Schauspielern wie Clemens Schick, Luisa-Céline Gaffron und Armin Rohde unterzeichnet ist.

Das Dorfschild ist schon weg, die Demonstranten noch nicht.

© Federico Gambarini/dpa

Am Mittag äußert sich auch Vizekanzler Robert Habeck, der als Wirtschaftsminister den Deal mit RWE maßgeblich verhandelt hat. Diesen verteidigte der Grünen-Politiker, blieben so doch Millionen Tonnen Kohle unter der Erde. Klimaproteste seien legitim, sagte Habeck, ergänzte aber: „Lützerath, wo keiner mehr wohnt, ist aus meiner Sicht das falsche Symbol.“

Die Grüne Jugend protestiert gegen die eigene Partei

In seiner Partei sehen das jedoch nicht alle so. Die Grüne Jugend, einflussreiche Nachwuchsorganisation, protestiert in Lützerath gegen die eigene Partei. „Die Räumung des Dorfes und die darauffolgende Verbrennung der darunter liegenden Kohle ist in der bestehenden und sich noch weiter verschärfenden Klimakrise falsch“, sagt der NRW-Landesvorsitzende der Grünen Jugend, Rênas Sahin.

Die Partei ist in der Causa Lützerath zerstritten. Auf dem Grünen-Parteitag in Bonn im Oktober scheiterte ein Antrag für ein Moratorium der Räumung nur ganz knapp. „Ich kann nachvollziehen, dass es viel Wut auf die Grünen gibt“, sagt Michael Bloss, klimapolitischer Sprecher der Partei im Europaparlament. Am Dienstag war er in Lützerath und wurde dort immer wieder für den Kurs der Grünen kritisiert – von einem früheren Klientel der Grünen.

„Ich glaube aber nicht, dass Lützerath die Geburtsstunde einer neuen Partei ist“, sagt Bloss. Er sieht die Proteste auch als Auftrag für die Politik der Grünen. „Das einzige, was uns hilft, ist der rasante Ausbau von erneuerbaren Energien“, sagt er dem Tagesspiegel.

Die Liberalen, seit Monaten auf energiepolitischem Konfrontationskurs mit den Grünen, sehen sich am ersten Tag der Räumung von Lützerath bestätigt. „Wir sollten die großen Proteste jetzt zum Anlass nehmen, die bisherige Ausstiegsreihenfolge bei der Kern- und Kohlekraft neu zu diskutieren“, sagt der energiepolitische Sprecher der FDP im Bundestag, Michael Kruse.

Die Kernkraft könne als Übergangstechnologie kurzfristig helfen, den deutschen CO₂-Ausstoß drastisch zu reduzieren. „Wenn selbst Greta Thunberg den Ausstieg aus der Kernkraft zum jetzigen Zeitpunkt nicht versteht, besteht dringender Gesprächsbedarf“, sagte Kruse.

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