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Bayerische Schüler bei der Abiturprüfung

© dpa/Armin Weigel

Zeugnisvermerk für Legastheniker: Schutz ist ein Zeichen von Schwäche

Schüler mit Lese-Rechtschreibstörung müssen mit einem Stigma leben, wenn sie im Abitur geschont werden wollen. Das kann so nicht bleiben.

Eine Kolumne von Jost Müller-Neuhof

Es ist eine ungewöhnliche, unangenehme Klage, über die das Bundesverfassungsgericht derzeit berät. Drei Abiturienten zogen nach Karlsruhe, weil man sie bevorzugt hat. Sie leiden unter einer Lese-Rechtschreibstörung, wie rund vier Prozent aller Schüler. Die Legasthenie wurde fachärztlich diagnostiziert. Und dort steht sie nun, die Diagnose, als Vermerk im Zeugnis für die Hochschulreife. Zusammen mit dem Hinweis, dass deswegen „Rechtschreibleistungen nicht bewertet“ wurden.

Die drei klagen, weil sie den Satz entfernt haben wollen. Ihre Beeinträchtigung, die durch den sogenannten Notenschutz ausgeglichen werden sollte, findet sich nun für jeden potenziellen Arbeitgeber sichtbar in den Bewerbungsunterlagen. Fast eine Art Warnhinweis. Nehmen Sie den lieber nicht - er ist behindert.

Ungerecht, würde man sagen, wäre da nicht das Bundesverwaltungsgericht, das den Zusatz 2015 absegnete und gegen dessen Urteil sich nun die Verfassungsbeschwerde der Ex-Schüler richtet. Es ersann die feine Differenzierung zwischen dem Notenschutz, der aus Transparenzgründen im Zeugnis stehen darf, und dem Nachteilsausgleich, der unerwähnt bleibt. Ein solcher Ausgleich ist insbesondere ein verlängerter Zeitraum für die Klausuren.

Kein Wunder, dass viele Legastheniker die Hilfe nicht in Anspruch nehmen - das Stigma im Zeugnis wiegt womöglich schwerer als Abzüge in der Endnote 

Jost Müller-Neuhof

Das Leipziger Bundesgericht meinte, der Notenschutz sei nichts anderes als ein Abweichen von den für alle gültigen Maßstäben der Leistungsbewertung, eine glatte Bevorzugung der „behinderten Prüflinge“. Das klingt mitleidlos, wird im Urteil aber mit den Belangen von Schülern gerechtfertigt, die schwach sind - aber eben nicht „behindert“. Und die weder Notenschutz noch Nachteilsausgleich bekommen.

Das Ziel ist Chancengleichheit, der Weg ist die Kompensation. Möglich, dass die Unterschiede zwischen der einen und der anderen Methode dabei nicht so fundamental sind, wie sie im Leipziger Urteil gemacht wurden. Denn wird nicht auch bevorzugt, wer länger Zeit für Klausuren hat?

Kein Wunder, dass viele Legastheniker die Hilfe nicht in Anspruch nehmen - das Stigma im Zeugnis wiegt womöglich schwerer als Abzüge in der Endnote. Daher ist die Hilfe - so, wie sie gewährt wird - keine Hilfe. Umgekehrt kann der Ausgleich eines Nachteils zum ungerechten Vorteil werden. Es ist verzwickt. Doch so, wie es ist, kann es nicht bleiben.

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