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Die Decke hängt tief über Woyzeck (Hannes Schumacher) und Marie (Mascha Schneider).

© Thomas M. Jauk

Woyzeck im Schichtsystem: Annette Pullen verlegt Büchner in den Niedriglohnsektor

Das Stückfragment von Georg Büchner zeigt den Menschen als gehetztes Tier. Die Neuinszenierung am Hans Otto Theater zeigt: Das gilt heute mehr denn je.

Dies ist eine schwarze Welt. Vielleicht die schwärzeste in der deutschen Dramatik. „Woyzeck“, dieses Fragment gebliebene Theaterstück des viel zu früh verstorbenen Georg Büchner, gibt wenig Anlass zur Hoffnung. Nicht nur, dass ein in einer schweren Psychose Gefangener hier unausweichlich seinem Ende entgegenstolpert. „Woyzeck“ handelt in düstersten Farben auch noch das Menschsein an sich ab: „Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einem, wenn man hinabsieht“, so lautet eine berühmt gewordene Zeile des Stücks. Und was ist er sonst, der Mensch? „Staub, Sand, Dreck.“

Düster, düster ist auch die Potsdamer Bühne von Iris Kraft. Ein nicht näher definiertes schwarzes Loch, in dessen Tiefe man nur wie durch einen dunklen Schleier blicken kann: eine halbtransparente Wand aus horizontalen, elastischen Kunststoffbändern. In die kann man sich hineinlehnen, durch die kann man steigen. Es dürfte dies der Blick Woyzecks selbst auf die Welt sein: verhangen, distanziert. Mit großen Schwierigkeiten, tatsächlich durchzudringen. Was dahinter geschieht, sieht verzerrt aus. Als gebe es Übertragungsfehler.

Der Mond, ein Stück Holz

Woyzeck (Hannes Schumacher) und Marie (Mascha Schneider) stehen anfangs davor und singen zusammen für ihr Kind „Der Mond ist aufgegangen“. Man bekommt eine Ahnung davon, wie es möglich sein könnte, in dieser Welt nicht einsam zu sein. Aber der Mond ist bei Büchner bekanntlich kein Tröster, sondern ein Stück faul Holz, und so ist auch die Harmonie von kurzer Dauer. Die Decke hängt tief. Es fehlt an Geld, Geld, Geld.

Bevor Woyzeck von einer Schicht zur nächsten hetzt, stürzen sich die beiden ins Gewühl. Bei Büchner Jahrmarkt und Wirtshaus, hier ein Mix aus Technoschuppen und Karaokebar. Woyzeck tanzt sich die Seele aus dem Leib. Vom Bühnenhimmel schwebt ein Herz-Luftballon. Marie (die immer genau weiß, was sie will: Singen! Tanzen!) singt ein Liebeslied. Zwei, die träumen könnten, wenn man sie ließe.

Die Bühne von Iris Kraft nimmt Woyzecks psychotischen Blick auf die Welt auf: Alles geschieht hinter einem Schleier.
Die Bühne von Iris Kraft nimmt Woyzecks psychotischen Blick auf die Welt auf: Alles geschieht hinter einem Schleier.

© Thomas M. Jauk

Die Woyzecks 2023

Hannes Schumachers Woyzeck ist einer, der um Worte ringt, als gehe es um sein Leben. Einer, der immer rennt. Vom sadistischen Hauptmann (Henning Strübbe) zum Doktor (Jörg Dathe), der ihn für Experimente missbraucht. Sie, die Arbeitgeber und „Experten“, sind die, die im Fall Woyzeck versagen, daran besteht kein Zweifel. Von ihnen rennt Woyzeck zur Arbeit, und wieder zu Marie. Auch in der Inszenierung von Annette Pullen geht alles zackzack. Nach wenigen Minuten schon Discokugel, Technobeats, Maries Lied. Theatrale Effekthascherei?

Jawohl. Und ganz bewusst: Dieser Inszenierung geht es um die Sehnsucht Maries und Woyzecks nach eben solchen Effekten: schnell noch staunen, ablenken, tanzen, bevor der finstere Alltag weitergeht. Folgerichtig, dass der Tambourmajor (Jan Hallmann), dem Marie verfällt, ein testosteronübersprühender Möchtegernpopstar im Glitzerkostüm ist. Das Gegenteil von Alltag.

Diesen Alltag verortet Annette Pullen sehr konkret im Heute. Das geht bei der Wortwahl los (von Schicht ist die Rede, von „Bitch“ und „Nutte“, gezahlt wird in Euro) lässt sich in Woyzecks Job beobachten (er sortiert Müllsäcke) und gipfelt in umfänglich eingestreuten Fremdtexten. Dokumentarische Texte aus dem Alltag des Niedriglohnsektors. Es geht um ausgesourcte „Bettenschubser:innen“ in Krankenhäusern und die Knochenarbeit, die Putzkräfte leisten. Menschen, die sich für wenige Euro abstrampeln, ohne Absicherung, ohne Anerkennung. Es geht um die Woyzecks 2023.

Dass das auf der Bühne so deutlich durchdekliniert wird: ganz schön schulmeisterlich. Aber dies ist keine Inszenierung, die Rätsel aufgeben will. Wie Büchner in in seinen politischen Schriften („Krieg den Palästen!“) will sie Missstände beklagen. Und zeigt vielleicht genau dort, im konkreten Heute-Bezug, auch das bisschen Licht auf, das noch in der dunkelsten Zustandsbeschreibung steckt. Denn öffnet sich nicht dort, wo Probleme benannt sind, auch ein Handlungsspielraum? Bei so viel Bekenntnis zu Büchner hätte man ruhig auch der aufgepeppten Bühnensprache selbst etwas mehr Büchner lassen können.

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