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Claudio Gentile (rechts) wich Brasiliens Zico kaum einmal von der Seite.

© Imago

Evergreens des Fußballs (11): Der Tag, an dem der schöne Fußball starb

Bei der WM 1982 liefern sich Italien und Brasilien ein denkwürdiges Fußballspiel. Am Ende triumphiert Pragmatismus über Fantasie. Und das Ergebnis hat Folgen.

Kein Fußball. Und das über Wochen, vielleicht sogar Monate. Nicht mal ein Testspiel aus dem Trainingslager im Süden, in dem die B-Mannschaft des eigenen Klubs gegen einen rumänischen Zweitligisten antritt. Genügend Zeit also für legendäre Spiele aus der Vergangenheit. Wir stellen hier einige vor. Heute: Weltmeisterschaft 1982, Zwischenrunde, Brasilien - Italien.

Der Fußball stirbt an einem heißen und sonnigen Tag in Barcelona. Die Tragödie trägt sich im kleinen Estadi Sarria zu. Einem Stadion, das inzwischen längst das Zeitliche gesegnet hat. Was es im Nachhinein zum logischen Schauplatz des besten Spiels der Weltmeisterschaft in Spanien macht.

Es ist der 5. Juli 1982, im entscheidenden Duell der Zwischenrundengruppe C treffen Brasilien und Italien aufeinander. Es geht um den Einzug ins Halbfinale. 44.000 Zuschauer sind dabei, als um 17.15 Uhr der Anstoß erfolgt.

Brasilien spielte immer nach vorn und wollte Tore erzielen

„Uns hätte uns ein Unentschieden gereicht. Aber einige wollten eine Show bieten“, wird sich Brasiliens Stürmer Serginho später erinnern. So, wie sie die Selecao fast immer bietet, seitdem Tele Santana Nationaltrainer ist. Dem „Jogo Bonito“, dem schönen Spiel, hat er sich in alter brasilianischer Tradition verschrieben. Kreativität und Spaß stehen unter Santana an erster Stelle, wer zu viel foult, wird auch schon mal ausgewechselt.

„Auch wenn wir zurücklagen, haben wir immer unseren Stil weitergespielt und nie versucht, hässlich zu gewinnen“, hat Zico einmal erzählt. „Weißer Pelé“ haben sie ihn Brasilien ehrfürchtig getauft, weil er an guten Tagen den Ball so zärtlich streicheln konnte, dass der voller Freude wundersame Flugbahnen nahm.

Neben Zico spielten Anfang der 1980er Jahre Falcao, Socrates und Cerezo im brasilianischen Mittelfeld. Womöglich war es die beste Zentrale, die je eine Mannschaft aufbieten konnte. In jedem Falle war es die künstlerisch anspruchsvollste Ansammlung von Kickern auf kleinstem Raum, die sich die Fußballfans jener Zeit vorstellen konnten.

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Durch das Turnier in Spanien ist Brasilien mit vier Siegen in vier Spielen gerauscht und hat dabei zwölf Tore erzielt. Gegner Italien ist nach drei Unentschieden in der Vorrunde erst in der zweiten Finalrunde gegen Argentinien der erste Erfolg gelungen. Gegen Brasilien gilt die Mannschaft von Trainer Enzo Bearzot deshalb für fast alle Experten als krasser Außenseiter.

Doch bereits in der fünften Minute trifft Paolo Rossi zum 1:0 für Italien. Es ist sein erster Treffer nach zuvor zehn Länderspielen ohne Tor. Die Brasilianer schütteln sich kurz, dann kombinieren sich Zico und Socrates unter Einsatz all ihrer technischen Fähigkeiten in Zehen und Hacke zum 1:1. Die Welt ist wieder in Ordnung. Doch Genie und Wahnsinn liegen bei Brasilien in diesem Spiel nicht weit auseinander. Einen haarsträubenden Fehler von Cerezo nutzt Rossi zur erneuten Führung für Italien.

Die Defensive der Brasilianer gilt als ihr großer Schwachpunkt, nicht etwa, weil es den Abwehrspielern an Klasse mangelt, sondern weil sie zu offensiv denken. Alle zehn Feldspieler in Gelb-Blau haben immer das Tor des Gegners im Blick. Taktische Fesseln legt Tele Santana seinen Defensivkräften nicht an.

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Ganz anders die Italiener. Bearzot setzt Claudio Gentile auf Zico an. Der eisenharte Verteidiger weicht seinem genialen Gegenspieler nicht von der Seite, arbeitet mit allen erlaubten und auch manch unerlaubten Mitteln. Zicos Trikot zeichnen die Spuren von Gentiles Manndeckung, ein großer Riss gibt einen Blick auf den Rücken des Brasilianers frei.

In der zweiten Halbzeit wird die Selecao für ihre Mühen belohnt, Falcao wuchtet den Ball mit links zum 2:2 in die Maschen. Der Favorit wähnt sich im Halbfinale und will das standesgemäß auch mit einem Sieg erreichen.

„Wir haben gespielt, um zu gewinnen. Auch bei einem 2:2. Das war Teles Philosophie. Hätten wir uns jetzt zurückziehen müssen oder auf Konter gespielt, hätte das die Spieler verändert“, erinnert sich Zico. Tatsächlich gelingt Italien durch Rossi nach einem Eckball zum dritten Mal das Führungstor. Ein weiterer Treffer ist danach nicht mehr nötig.

Italien wurde später Weltmeister, Rossi Torschützenkönig

„An dem Tag lief einfach alles für Italien. Wahrscheinlich hätten wir noch fünf Stunden spielen können und sie hätten trotzdem gewonnen“, sagt Verteidiger Junior. Sein Kollege Zico hat mehr Schwierigkeiten die Niederlage zu verwinden und spricht später vom Tag, „an dem der Fußball starb“.

Tatsächlich hat das Spiel den Sport nachhaltig verändert, das „Jogo Bonito“ in Brasilien ist mit dem Team von 1982 untergegangen. Doch die Auswirkungen gehen noch weiter. Angreifer Eder glaubt: „Dieses Spiel hat nicht nur den brasilianischen Fußball verändert, es hat den gesamten Fußball verändert.“

Zico ist überzeugt davon, dass ein Sieg Brasiliens an jenem Tag dem gesamten Sport gutgetan hätte. „Wir haben artistischen Fußball in all seiner Schönheit gezeigt, es ging darum anzugreifen und Tore zu erzielen.“ Italien sei das genaue Gegenteil gewesen, komplett darauf ausgerichtet das gegnerische Spiel zu stoppen. Doch was erfolgreich ist, wird kopiert.

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„Jetzt sind wir die Brasilianer“, jubelt die italienische Zeitung „Corriello dello Sport“ nach dem 3:2-Sieg. Tatsächlich ist Italien danach unaufhaltsam. Rossi trifft noch weitere dreimal, am Ende steht der Weltmeistertitel. Das ganze Land erlebt einen Freudentaumel.

Gefeiert wird auch am anderen Ende der Welt. Und das schon auf der Pressekonferenz nach dem bitteren WM-Aus. 300 Journalisten applaudieren Trainer Tele Santana stehend, auf dem Flughafen in der Heimat werden die Spieler ebenso mit Beifall empfangen. Schön spielen kann manchmal wichtiger sein, als um jeden Preis zu gewinnen. Gerade in Brasilien. Beim 1994er-Turnier revanchiert sich die Selecao im WM-Endspiel gegen Italien, es ist schmuckloser Finalsieg im Elfmeterschießen nach torlosen 120 Minuten. 2002 folgt der fünfte Titel für Brasilien. Besonders glanzvoll ist auch der nicht.

Und so gibt es bis heute viele Fußballfans auf der ganzen Welt, die sich mit Wehmut an das Team von 1982 erinnern. „Die Menschen werden nie aufhören, über diese Mannschaft zu sprechen“, hat Eder 30 Jahre später erzählt. Und sei es nur, um die Erinnerung an einen Fußball lebendig zu halten, den es in dieser Form danach nicht mehr gegeben hat. Jener Fußball, der bei der „Tragödie von Sarria“ wohl für immer gestorben ist.

Bisher in dieser Serie erschienen: DFB-Pokalfinale 1973 Borussia Mönchengladbach - 1. FC Köln , DFB-Pokalfinale 1993 Hertha BSC Amateure - Bayer 04 Leverkusen , WM-Finale 1974, Bundesrepublik Deutschland - Niederlande , Uefa-Cup-Finale 2001, FC Liverpool - Deportivo Alaves , DFB-Pokalfinale 1998, MSV Duisburg - Bayern München , Champions-League-Finale 1997, Borussia Dortmund - Juventus Turin , Europapokal der Pokalsieger 1985/86, Viertelfinale, Bayer Uerdingen - Dynamo Dresden , WM-Halbfinale 2006, Deutschland - Italien , Bundesliga 2008/09 Hertha BSC - Bayern München , DFB-Pokal 1984, Halbfinale, Borussia Mönchengladbach - Werder Bremen.

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