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Ab jetzt Sprinter. Der sehbehinderte Mehrkämpfer Thomas Ulbricht musste sich für die Paralympics spezialisieren.

© dapd

Paralympics: Die Klassenfrage

Drei Startklassen für Blinde und acht für Spastiker: Manche Medaille der Paralympics wird schon bei der Einteilung der Athleten vorentschieden.

So schnell kann’s gehen. Thomas Ulbricht, Leichtathlet beim PSC Berlin, ist Fünfkämpfer. Eigentlich. Aber für seine Teilnahme an den Paralympics in London vom 29. August bis zum 9. September musste er innerhalb weniger Monate zum 100-Meter-Sprinter werden. „Für London wurde der Fünfkampf gestrichen, deswegen mussten wir uns umstellen“, sagt Ralf Otto, Chef der Leichtathletikabteilung beim Deutschen Behindertensportverband (DBS).

Die Gewichtung der Disziplinen im Behindertensport und die Eingruppierung der Athleten durch die sogenannte Klassifizierung sind eine Wissenschaft für sich. Die Regeln sind so kompliziert, dass selbst viele Trainer nicht richtig durchblicken. Weil bei den Paralympics aber 4200 Athleten aus knapp 170 Ländern an den Start gehen, die alle unterschiedliche körperliche Voraussetzungen mitbringen durch ihre Kleinwüchsigkeit oder ihre Amputationen, ihre fehlenden Gliedmaßen oder Körperteile, sollen sogenannte Startklassen eine größtmögliche Gerechtigkeit beim Kampf um die insgesamt 500 Goldmedaillen gewährleisten.

Eingruppiert werden alle Leistungssportler schon lange vor den Paralympics. „In London kann jetzt keiner mehr wie in Sydney 2000 auf die letzten Meter ankommen und sich noch während der Spiele klassifizieren lassen“, sagt Ralf Otto, der auch Landestrainer des Berliner Behindertensportverbandes ist. Er selbst absolviert gerade die Ausbildung zum Klassifizierer, „das geht oft über Jahre, und selbst wenn man ausgebildet ist, setzt einen das Internationale Paralympische Komitee nicht gleich ein.“ Beim IPC seien derzeit rund 100 Klassifizierer im Einsatz. Allein in der Leichathletik gibt es beispielsweise drei Blindenklassen, acht Cerebralparetiker (Spastiker), fünf Amputierten- und „Les Autres“-Klassen sowie acht Querschnittgelähmten-Klassen. In einzelnen Disziplinen werden die dann auch zusammengelegt, um Medaillen nicht inflationär zu vergeben.

In den einzelnen Sportarten wird dabei nach völlig unterschiedlichen Maßstäben klassifiziert, und eigentlich bräuchte man dafür ein Physik- und Mathematikstudium. Das IPC bietet dazu am Anfang der Spiele in London ein spezielles Medienseminar an. Beim Schwimmen werden die Sportler laut Otto rein funktionell betrachtet: Hier treten Sportler ohne Unterschenkel gegen Athleten ohne Unterarme an, weil bei ihnen der Verlust des Vortriebs laut den IPC–Regeln vergleichbar ist. Bei den Läufern, werden die Teilnehmer dagegen rein medizinisch betrachtet: Wie viel Arm oder Bein ist nach einem Motorradunfall oder einer Amputation infolge einer Krebserkrankung noch vorhanden? So kommt es, dass der einbeinamputierte Markus Rehm (Klasse 44) aus Deutschland gegen den Doppelprothesenläufer Oscar Pistorius (Klasse 43) aus Südafrika startet. Beim Basketball kommen hingegen nicht zwangsläufig die besten Spieler in die Nationalmannschaft, berichtet Otto. Da dürfen nämlich auch leicht Behinderte in den Rollstuhl, die nur einen Knieschaden haben, die dafür aber Bewertungspunkte kassieren. Und jede Mannschaft darf nur eine bestimmte Punktezahl erreichen.

Auch beim Weitsprung greift ein Punktesystem, das bezeichnet Otto aber als verbesserungsbedürftig. „Derzeit gibt es nicht automatisch mehr Punkte, wenn einer viel weiter springt als der andere.“ Deswegen sagt Otto: „50 Prozent der Medaillen werden auch am grünen Tisch gewonnen und nicht nur auf dem Trainingsplatz.“ Insgesamt aber, so schränkt er sich selbst ein, stellten die Starterklassen durchaus Gerechtigkeit und Vergleichbarkeit her.

Allerdings wird bei den Klassifizierungen bisweilen geschummelt. Bei den Spielen in Sydney 2000 enthüllte ein Journalist, dass eine Rollstuhlbasketball-Mannschaft gar nicht aus geistig Behinderten bestand – die durften damals, wie jetzt auch in London wieder, an Paralympics teilnehmen. „Die Spieler hatten sich für weniger intelligent bei den Tests ausgegeben als sie in Wirklichkeit waren“, sagt Klassifizierungsexperte Otto und nennt auch das Motiv: „In China beispielsweise gibt es für eine Medaille so viel Geld, dass die Leute dann ausgesorgt haben.“

In Sydney musste aber auch ein deutscher Sitzvolleyballer seine Sachen packen. Der hatte sich als behinderter Sitzvolleyballer ausgegeben. Otto sagt: „Die Klassifizierer hatten dann aber festgestellt, dass dem gar nichts wirklich fehlt.“

Ungerechtigkeiten gibt es auch allein durch die technische Ausstattung. Zwar gelingt es den Teilnehmern aus Entwicklungsländern schon mal, bei Reparaturen in der Paralympics-Werkstatt von Förderfirma Otto Bock ihre drittklassigen Prothesen und Rollstühle reparieren und tunen zu lassen. Doch herrscht innerhalb der Sportlerszene Unmut darüber, dass einige Athleten eben mit Drittweltzubehör, andere mit Standardtechnik und Privilegierte mit Hightech-Ausstattung starten: Rollstühle, Karbonfüße und besonders Kniegelenke sind am Start, in deren Entwicklung inzwischen Millionen Euro gesteckt werden.

Der Leichtathletikchef im deutschen Team warnt aber davor, generell Startklassen infrage zu stellen. „Bei Olympia gibt es ja auch unterschiedliche Startklassen, etwa beim Rudern, Karate und im Boxen. Über die wird im Nichtbehindertensport auch nicht diskutiert.“

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