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Russlands WM-Maskottchen posiert mit Fans.

© REUTERS/Henry Romero

Russland nach der WM: „Vielleicht hassen uns doch nicht alle“

Der russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky spricht darüber, wie die WM das Weltbild seiner Landsleute erweitert hat und warum es trotzdem keine politischen Folgen geben wird.

Herr Glukhovsky, die WM ist einerseits die Show des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Andererseits kommt es zu vielfältigen Kontakten zwischen Menschen. Welche Dynamiken haben Sie bisher beobachtet?

Die WM ist eine großartige, sinnvolle Erfahrung für die Russen. Viele Städte bekommen erstmals eine große Zahl ausländischer Besucher zu Gesicht. In Moskau und St. Petersburg ist man das gewohnt, nicht aber zum Beispiel in Saransk, der Hauptstadt von Mordwinien, einer Republik mit außergewöhnlich vielen Gefängnissen und Straflagern. Hierhin kommen tausende Fußballfans, und es gibt keine Fälle von Gewalt, keine Übergriffe oder Straßenkämpfe. Alles läuft friedlich ab. Natürlich sind Russen introvertierter als Menschen aus Uruguay, aber auch ein Introvertierter will sich von Zeit zu Zeit öffnen, zumindest ein wenig. Klar werden die Russen nach der WM erst einmal ausatmen, dass die Fans weg sind – die Mädchen mit Bedauern und die Jungs mit Erleichterung, aber jetzt sind sie noch glücklich.

Wird die antiwestliche Propaganda künftig etwa weniger wirksam?

Die Russen verstehen, dass die antiwestliche Propaganda des Regimes klaustrophobisch ist. Dieses Beschwören einer hermetischen, pseudohistorischen Existenz, dieses ständige Zurückblicken in die Vergangenheit, das Abstreiten der äußeren Welt, das Insistieren auf unseren „Sonderweg“. Jetzt haben die Menschen eine Möglichkeit, das Image vom Ausländer mit ihrer eigenen Erfahrung zu vergleichen. Wenn man Propaganda und persönliche Erlebnisse zur Auswahl hat, dann sollte sich doch die eigene Erfahrung durchsetzen. Moderatoren des Staats-Fernsehens wie Dmitri Kisseljow werden einen schwereren Job haben, die Russen wieder davon zu überzeugen, dass die Deutschen und die Briten böse sind. Denn sie spazierten auf unseren Straßen, und sie waren freundlich.

Was konnten die Russen selbst während der WM erleben?

Man hat die Erfahrung gemacht, dass man die eigenen Straßen in Besitz nehmen kann, ohne Konsequenzen von der Polizei befürchten zu müssen. Das ist großartig. Dann war da die Performance der russischen Nationalmannschaft, die sehr ordentlich war, erstmals in Jahrzehnten. Sogar die Niederlage gegen Kroatien hat uns nicht traurig oder aggressiv gemacht. Wir haben die Siege mit Dankbarkeit aufgenommen und die Niederlage mit Würde. Als wir gegen Spanien gewannen, herrschte Hysterie in positiver Hinsicht: Russische Fahnen wehten auf den Straßen, aber das zeigte nur, wie sehr die Russen stolz auf ihr Land sein wollen. Es war eine ehrliche, universelle, aufrichtige, fast unschuldige Freude – ganz anders als damals, als wir die Krim geschnappt haben. Russland hatte so wenige Gründe auf etwas stolz zu sein in den letzten Jahrhunderten.

Was bleibt?

Es wird die schöne Erinnerung bleiben. Es ist wie bei den Olympischen Spielen 1980, an die erinnert man sich auch gern. Wir haben die Mauer abgebaut oder den Eisernen Vorhang gehoben und sehen, dass nichts Schlimmes dahinter ist. Vielleicht also kann unsere Paranoia auf eine andere Weise behandelt werden, vielleicht also hassen uns nicht alle, wie man uns jeden zweiten Tag erzählt.

Wird die WM politische Folgen haben?
Das glaube ich nicht. Aber es ist gut, dass Putin die russischen Siege nicht monopolisiert hat. Es war eine einende Erfahrung für die Bürger, das Verdienst der Menschen.

Jutta Sommerbauer

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