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Trainer Wolf Schmidt gibt Thoya Küster Anweisungen.

© IMAGO/Hanno Bode

Voy! Voy! Voy! Wir kommen!: Die deutschen Frauen im Blindenfußball lassen sich nicht aufhalten

Acht junge Frauen aus Deutschland gehen im Blindenfußball neue Wege. In England nehmen sie nun an der ersten WM teil – und das ohne jede Unterstützung vom Verband.

Von Benjamin Apitius

Hundert Euro, dreihundert Euro, sechshundert Euro. Jenny Dabelstein hatte den Link auf ihrem Handy ständig geöffnet. Tausend, zweitausend, viertausend. Sie konnte ihr Glück kaum fassen. Immer wieder aktualisierte Dabelstein die Spendenseite und checkte die aktuelle Summe. Achttausend Euro, elftausend, siebzehntausend. Sie erlebte live mit, wie sich ein großer Traum von ihr – Spende für Spende – erfüllen würde.

Schließlich wurde die festgesetzte Zielsumme von 20.000 Euro erreicht und bis zum Ende der Crowdfunding-Aktion kamen sagenhafte 24.411 Euro zusammen. „Was für ein tolles Gefühl“, erinnert sie sich im Gespräch mit dem Tagesspiegel: „Zu bemerken, wie viele Leute uns auf unserem Weg unterstützen wollen.“ Insgesamt waren es 769 Menschen.

Jenny Dabelstein spielt Blindenfußball in Deutschlands erster reinen Frauenmannschaft. Zusammen mit ihren Vereinskolleginnen Alissa Rudi, Jana Marquart, Mathilda Maas, Thoya Küster und Katja Löffler (alle FC St. Pauli) sowie Melissa Potratz (Fortuna Düsseldorf) und Amira Schwarz (Borussia Dortmund) wurde sie im vergangenen Jahr Europameisterin und qualifizierte sich so für die Weltmeisterschaft, die an diesem Montag in Birmingham beginnt.

Die Männer werden gefördert, die Frauen nicht

Bei den IBSA World Games – der weltweit größten Sportveranstaltung für blinde und sehbehinderte Sportlerinnen und Sportler – wird ebenso die Herren-Nationalmannschaft für den Deutschen Behindertensportverband (DBS) an den Start gehen. Für Dabelsteins männliche Kollegen geht es in England zusätzlich um die Qualifikation für die Paralympics im kommenden Jahr in Paris. Für die Frauen ist auf der größten Bühne im Behindertensport dagegen kein Wettbewerb vorgesehen.

Es gibt einige Frauen, die sich, ich will es mal nennen, zu einer ‚Interessengemeinschaft‘ zusammen gefunden haben und dort ein bisschen Fußball spielen. Allerdings daraus den Schluss zu ziehen, es wäre eine Nationalmannschaft, das wäre sicherlich viel zu weit gegriffen.

Frank-Thomas Hartleb, Direktor für Leistungssport des Behindertensportverbandes im „Deutschlandfunk“

Dieser Umstand war letztlich auch der Grund, warum die deutschen Frauen bereits für die EM im vergangenen Jahr in Italien (Fundingsumme: 11.616,80 Euro) – und nun erneut für die WM – einen Spendenaufruf starteten, um die Turniergebühr und die Reisekosten zu finanzieren. Der DBS fördert nämlich ausschließlich vom Internationalen Paralympischen Komitee anerkannte Sportarten – und das trifft im Blindenfußball eben nur auf die Männer zu, die seit ihrer Verbandszugehörigkeit 2006 keinen Weg bereiten konnten für die Frauen.

Blindenfußball ist eine der wenigen integrativen Teamsportarten, bei denen Blinde mit Sehenden zusammenspielen. Pro Mannschaft laufen vier Feldspieler mit starker Sehbeeinträchtigung auf, die zur Gleichheit Augenpflaster und Schutzbrillen tragen. Die Torhüter dagegen haben uneingeschränkte Sicht.

Hinter den Toren sorgen Guides mit ihren Kommandos bei den Spielerinnen und Spielern auf dem Feld für Orientierung („Noch zehn, neun, acht, sieben, sechs und Schuss!“). Spieler, die im Umkreis von drei Metern auf den ballführenden Gegner zulaufen, müssen laut „Voy“ rufen – spanisch für „Ich komme“. Eingenähte Rasseln verleihen dem Ball ein stetes Bewegungsgeräusch.

Wer nun denkt, ein Blindenfußballspiel bestehe vor allem aus Fehlschüssen und Zusammenstößen, der irrt gewaltig. Die Ballführung der Spielerinnen und Spieler ist meist eng und durchaus elegant, das Tempo auf dem eingerahmten Kleinfeld erstaunlich hoch, die sehenden Torhüter sehen nicht selten alt aus. 2018 wurde ein Treffer von St. Paulis Blindenfußballer Serdal Celebi in der ARD gar zum Tor des Monats gewählt, so schön und eindrucksvoll ist es den Zuschauern erschienen.

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Und was die Zusammenstöße betrifft – viele Spielerinnen und Spieler beschreiben es wie Thoya Küster, die in der Bundesliga an der Seite von Celebi spielt: „Blindenfußball ist für mich ein Gefühl von Freiheit, weil ich mich auf dem Platz komplett frei bewegen kann. Das kann ich sonst nie.“

Dem Zeitgeist entspricht das eher nicht

Auf Vereinsebene treten in der Bundesliga gemischte Teams aus vorwiegend Männern und wirklich sehr sehr wenigen Frauen gegeneinander an. Der langjährige Trainer der Blindenfußballer vom FC St. Pauli, Wolf Schmidt (Bild oben, rechts), hatte vor zwei Jahren dann die Gründungsidee eines reinen Frauenteams. Er und seine Mitstreiterinnen und Mitstreiter wunderten sich jedoch sehr (und jetzt über nichts mehr), dass vom Verband mal so gar keine Unterstützung zu erwarten war.

Lediglich die formale Anmeldung für die Weltmeisterschaft in England wurde bis hierhin von offizieller Seite getätigt. Die Kosten für die WM-Teilnahme – insgesamt rund 60.000 Euro – mussten Schmidt und Co ganz allein aufbringen. Neben der Spendenaktion kommen weitere 25.000 Euro von der Heinz-Kettler-Stiftung, den Rest tragen kleinere Geldgeber und die Blindenfußballabteilung vom FC St. Pauli bei.

Es fühlt sich sehr ungerecht an, weil ich sehe, was die Männer-Nationalmannschaft so alles hat und bekommt.

Thoya Küster, Blindenfußballerin vom FC St. Pauli

Der Verband verweist auf die eigenen Richtlinien und betont, für eine Förderung der Frauen müsste es eine eigene Frauen-Meisterschaft geben und der weibliche Wettbewerb ins paralympische Programm aufgenommen werden. Schmidt zeigt sich über diese Hürden maximal entsetzt. „Die internationale Bewegung, dass Blindenfußball von Frauen gespielt wird, die wird nicht darauf warten, bis es einen Ligabetrieb in Deutschland gibt“, sagt er. „Und wenn keiner die Initiative ergreift, dann wartet man wieder viel zu lange – wie bei den Männern, die viel zu spät angefangen haben, international zu spielen.“

Der Verband schaue seiner Meinung nach gerade dabei zu, wie Sportlerinnen auf eigene Faust versuchen, sich ein Spielrecht zu erkämpfen. Dem Zeitgeist entspricht das eher nicht. Mit Themen wie Geschlechtergerechtigkeit könnten Verbände heutzutage leicht punkten. Womöglich hätte eine kleine Geste in Richtung der neu formierten Blindenfußballerinnen zu Beginn schon gereicht. Stattdessen bildete sich bis heute ein Graben.

„Es fühlt sich sehr ungerecht an, weil ich sehe, was die Männer-Nationalmannschaft so alles hat und bekommt“, sagte Thoya Küster kürzlich dem „Deutschlandfunk“. Vergangenes Jahr hätten die Männer den Frauen Trikots überlassen. Jedoch nicht einen kompletten Satz, sondern vielmehr Restposten. „Die Trikots haben alle nicht gepasst oder hatten nicht unsere Nummern“, erzählte Küster: „Wir mussten dann entscheiden: Das ist die Größe, du bekommst die Nummer. Ich hatte davor die 10, das ist meine Nummer – und habe dann plötzlich die 6 bekommen.“ 

Küster ist die deutsche Messi

Und eigentlich sollte doch zumindest ein Aspekt in den Ohren der Verantwortlichen rasseln. Seit der Corona-Pandemie beschäftigt den Deutschen Behindertensportverband ein gravierender Mitgliederrückgang. Hört man dem Frauen-Team nun zu, dann begreift man schnell, dass in einem Blindenfußballangebot für Frauen durchaus Potenziale für einen kleinen Mitgliederschwung schlummern könnten – sogar mit junger Zielgruppe. „Ich kann mir schon vorstellen“, sagt Kapitänin Jana Marquart dem Tagesspiegel, „dass viel mehr Frauen zum Blindenfußball kommen würden, wenn es reine Frauenmannschaften gäbe.“

St. Paulis Ausnahmespielerin Thoya Küster trifft bei den Frauen am laufenden Band.
St. Paulis Ausnahmespielerin Thoya Küster trifft bei den Frauen am laufenden Band.

© IMAGO/Hanno Bode

Um in den gemischten Teams auf Einsatzzeiten (und Spaß) zu kommen, müsse man als Frau schon richtig gut sein. „Die Männerbundesliga ist aber sehr hart, sehr schnell, sehr athletisch geworden“, sagt Trainer Schmidt dieser Zeitung. Lediglich Thoya Küster kann sich da derzeit als Stammkraft behaupten – „wahrscheinlich, weil sie schon mit neun Jahren anfing“, sagt Schmidt.

Heute ist Küster beim Bundesligameister aus St. Pauli gesetzt und mit ihren gerade einmal 17 Jahren eine Ausnahmeerscheinung im deutschen Blindenfußball. Bei der Frauen-EM im vergangenen Jahr trafen die Deutschen in zwei Finalspielen auf England und siegten jeweils 4:0 – Küster schoss dabei alle acht Treffer. Auch bei den beiden übrigen WM-Vorbereitungsturnieren, die durch den FC St. Pauli auf Vereinsebene durchgeführt wurden, erzielte Küster zuletzt die meisten Tore. Sie ist der Hit in der deutschen Mannschaft. Die Messi.

In Birmingham bekommen es die Frauen in der Vorrunde nun mit Argentinien, Österreich und Indien zu tun. Außerhalb Europas ist es mit den Strukturen schon weiter und ein geregelter Saisonverlauf für Frauenteams oft etabliert. Argentinien gehört zu den Favoritinnen auf den historisch ersten WM-Sieg.

50
Euro bedeuteten beim Crowdfunding als Gegenleistung eine Postkarte der Fußballerinnen aus Birmingham.

Das deutsche Team, das mit 16 Personen nach England reist, hat in insgesamt fünf Trainingslagern in Hamburg an seiner Performance gearbeitet. Die Spielerinnen vom FC St. Pauli trainierten darüber hinaus zwei bis dreimal die Woche im Verein.

Die Hälfte der Spielerinnen besteht aus Anfängerinnen, die vor anderthalb Jahren mit dem Blindenfußball begonnen haben. Und anscheinend setzt der Kampf um Anerkennung bei ihnen auch zusätzliche Kräfte frei. Derzeit befindet sich das Team quasi auf der Überholspur. „Verrückt ist das“, da sind sie sich alle einig, „einfach verrückt“. Sie spielen gerade einmal zwei Jahre zusammen – „und sind schon Europameisterinnen geworden“, jubelt Jenny Dabelstein. Eigentlich wollte sie ja nur einfach mal ein bisschen gegen den Ball treten.

Die WM-Ziele der Deutschen? „Wir haben richtig Bock“, sagt Jana Marquart: „Und natürlich wollen wir gewinnen.“ Damit meint sie aber gar nicht unbedingt den Weltmeistertitel, sondern getreu des Mannschaftsmottos: gewinnen – allen voran an Erfahrung. Sie freuen sich auf die anderen Mannschaften, die anderen Frauen, man merkt förmlich, wie gut es ihnen tut, unter ihresgleichen zu sein.

In den kommenden Tagen, wenn bei der WM zwischen den Begegnungen mal Zeit ist, werden sich die deutschen Spielerinnen zusammensetzen und Postkarten schreiben. So wie schon bei der EM. „Da hilft wirklich jede von uns mit, sofern sie Schreibschrift kann“, sagt Kapitänin Marquart. Adressaten sind einige der Unterstützerinnen und Unterstützer, es war eine von mehreren Gegenleistungen, die man für eine Spende erhalten konnte.

Vielleicht schreiben sie auch an Jan Böhmermann und Olli Schulz, die in ihrem Podcast öffentlichkeitswirksam von der Aktion erzählt hatten. Oder an Bjarne Mädel, der für den Dreh eines kleinen Videoaufrufs extra ins Millerntor-Stadion von St. Pauli gekommen war. Natürlich mit HSV-Schal.  

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