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Frührentner? Von wegen. Andreas Granqvist ist absoluter Leistungsträger.

© AFP

Jetzt winkt sogar das WM-Halbfinale: Zweiter Frühling: Die Schweden spielen verrückt

Die beste WM seit mehr als 20 Jahren? Das hätte für Schweden vor Wochen noch absurder geklungen als eine Seniorenband mit dem Namen „Metallic Rollatorz“.

Vier in die Jahre gekommene Gestalten in Gelb und Blau mühen sich über die rund um einen Fußballplatz gezogene Tartanbahn. Aus den Lautsprechern dröhnt peppige Rockmusik und ein gesanglich eher unterdurchschnittlich begabter Chor verkündet auf Schwedisch: „Wir werden Weltmeister, kein Quatsch!“ Hier wird nicht etwa ein missratener Imagefilm der schwedischen Nationalmannschaft beschrieben, sondern das Musikvideo zum WM-Song der Seniorenband „Metallic Rollatorz“.

Deren Mitglieder haben im Durchschnitt 89 Jahre auf dem Buckel und sind erst durch die offene Tageseinrichtung „Hörnan“ im schwedischen Örtchen Bjuv bei Helsingborg zum Musizieren gekommen. „Das hätte ich nicht für möglich gehalten. In 90 Jahren habe ich noch nie auf einer Bühne gestanden“, erzählt Inga Fransson (91). Sie und ihre Bandkollegen haben im hohen Alter eine steile Karriere hingelegt. Im Sommer 2017 spielten sie sogar beim „Sweden-Rock“-Festival. Wer dort sonst so auftritt? Aerosmith, Iron Maiden und Ozzy Osbourne zum Beispiel.

Nur knapp älter als die schwedische Nationalmannschaft, aber fast so erfolgreich: die schwedische Senioren-Band „Metallic Rollatorz“.

© Youtube

Dem Team von Coach Janne Andersson dürfte dieses Gefühl bekannt vorkommen. Im WM-Viertelfinale, wo sonst Länder wie Argentinien, Deutschland und Spanien ihre Schlachten schlagen, steht stattdessen Schweden. Zum ersten Mal seit 1994 als sie in den USA am Ende Dritter wurden. Ohne den großen Zlatan Ibrahimovic, der nach dem kläglichen Vorrunden-Aus bei der Europameisterschaft 2016 genug davon hatte, das blau-gelbe Trikot zu tragen. Nur um sich dann in den Wochen und Monaten vor der WM vom anderen Ende der Welt aus immer wieder selbst ins Gespräch zu bringen. So als könne Andersson es sich ohnehin nicht leisten, auf Schwedens letzten echten Superstar zu verzichten.

Keine schillernden Namen mehr

Mit der Meinung wäre Ibrahimovic damals wahrscheinlich nicht alleine gewesen. Doch der 55 Jahre alte Übungsleiter, der 2015 den schwedischen Traditionsverein IFK Norrköping zur ersten Meisterschaft seit 27 Jahren geführt hatte, blieb standhaft: „Ich plane nicht mit Zlatan.“ Die Zeit der Ljungbergs und Larssons, sie war endgültig vorbei. Schillernde Namen sucht man im schwedischen WM-Kader vergeblich. Dafür standen in den bisherigen Partien immer fünf Feldspieler jenseits der 30 in der Startaufstellung.

Und was für welche: Ola Toivonen, Stürmer in Diensten des FC Toulouse. Saisonbilanz: 23 (Kurz-)Einsätze, null Tore, null Vorlagen. In der Nationalmannschaft ist er trotzdem gesetzt. „Für mich ist es unbegreiflich. Aber vielleicht verstehe ich auch einfach nichts von Fußball“, wunderte sich der Trainer der „Tre Kronor“ über Toivonens spärliche Einsatzzeiten in Frankreich. Gegen Deutschland traf der 32-Jährige gleich mit seinem ersten und einzigen Schuss aufs Tor zur zwischenzeitlichen Führung.

Neben ihm spielt ein gewisser Marcus Berg. Alleine der Name dürfte bei manchen HSV-Fans wohl heute noch eine spontane Selbstentzündung auslösen. Der kantige Schwede kostete im Sommer 2009 zehn Millionen Euro und kam auf ganze fünf Bundesliga-Tore in 54 Partien. Seit einem Jahr verdient Berg sein Geld beim Al-Ain FC in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Dass der 31-Jährige dort 25 Treffer in der abgelaufenen Saison erzielt hat, sagt vieles über die fußballerische Qualität der UAE Arabian Gulf League aus. Andersson kümmerte auch das nicht.

Schwedisches Abwehrbollwerk

„Bringt Marcus weiter seine Leistungen, bleibt er wichtig für die Nationalmannschaft“, nahm der Coach den Diskussionen um Bergs sportliche Konkurrenzfähigkeit bereits unmittelbar nach der Wechselverkündung den Wind aus den Segeln. Und Hamburgs Chancentod a. D. zahlt das in ihn gesetzte Vertrauen zurück. Nicht etwa mit WM-Toren, sondern mit einem klaglosen Erdulden seiner Rolle als erster Aufseher im schwedischen Hochsicherheitstrakt. Die Qualifikations-Play-offs gegen Italien mit eingerechnet, blieben die Skandinavier in fünf der letzten sechs Pflichtspiele ohne Gegentor. In fünf der letzten sechs Pflichtspiele erzielte Schweden aber auch nie mehr als einen eigenen Treffer.

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Im ereignisarmen Achtelfinale gegen die Schweiz war die Mithilfe von Manuel Akanji nötig, der den eigentlich harmlosen Schussversuch von Emil Forsberg unhaltbar zum 1:0 abfälschte. Einen Schönheitspreis gewinnt ohnehin keines der sechs Turniertore, die Schweden bisher erzielt hat. Zum 3:0-Erfolg gegen Mexiko steuerten die Zentralamerikaner ein unglückliches Eigentor bei. Bester Torschütze in den Reihen der Blau-Gelben ist Innenverteidiger Andreas Granqvist. Im ersten und letzten Gruppenspiel traf der Kapitän jeweils vom Punkt. Granqvist ist 33 Jahre „reich“, wie sie in der Senioreneinrichtung „Hörnan“ sagen, und so etwas wie die Personifizierung des Rätsels, das die alternden Schweden bei dieser Weltmeisterschaft aufgeben.

Kapitän lässt Karriere ausklingen

Wie schwer kann eine Mannschaft zu schlagen sein, deren Kapitän seine Laufbahn in Zukunft bei seinem Jugendverein Helsingborgs IF in der Zweiten Liga ausklingen lässt? Nun, die Antwort auf diese Frage liegt wohl im 15 km entfernten Bjuv versteckt. Zugegeben, die Auftritte der „Tre Kronor“ sind alles andere als ein Hohelied auf die Spielkultur. Damit sind sie jedoch vor allem eines: standesgemäß. Aus einem Marcus Berg wird im Herbst seiner Karriere eben kein zweiter Harry Kane mehr. Schließlich wird eine 91-Jährige, die zeit ihres Lebens noch nie eine Gitarre berührt hat, auch nicht über Nacht zu Jimi Hendrix.

Das weiß auch Marcus Nyrén, verantwortlich für die Seniorenarbeit in Bjuv und Ideengeber der „Metallic Rollatorz“. Der Pädagoge ist dennoch überzeugt: „Es ist nie zu spät, um ins Rampenlicht zu treten.“ Zwar nicht mit virtuosen Einzelkünstlern, dafür aber mit einem intakten Kollektiv, das sich gegenseitig einen zweiten Frühling beschert. Vielleicht reicht das sogar, um Weltmeister zu werden.

Alle Infos zur WM finden Sie in unserem Liveblog.

Niklas Levinsohn

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