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Bild der Zerstörung. Der Künstler Yadegar Asisi hat die bombardierte Stadt in einem Panorama von 107 mal 27 Metern verewigt. Manch einer wirft ihm vor, er bediene den Opfermythos.

© Robert Michael/AFP

70 Jahre nach der Bombardierung von Dresden: Die Gedenkaufgabe

Eberhard Spormann überlebte die Zerstörung von Dresden 1945 in einem Keller. Vergessen konnte er nie. Doch 70 Jahre später wird nicht nur über die Bombennacht diskutiert – sondern vor allem über Pegida. Wie gedenkt man in einer geteilten Stadt?

Eines aber hat Eberhard Spormann bis heute nicht vergessen: seine Stadt. Er hat sie früh verlassen und hinterher die halbe Welt gesehen. Doch diese Welt verblasst zusehends. In diesen Wochen aber ist er wieder aufgewühlt, es ist Februar. Jeden Tag ruft er bei seinem Sohn an und fragt, wann denn wieder etwas im Fernsehen käme.

Wer ihn selbst anruft und mit ihm zu sprechen versucht, dem sagt er mit brüchiger Stimme, dass er dazu im Moment nicht in der Lage sei, vielleicht würde er sich später noch einmal selbst melden, wenn es wieder besser ginge. Doch dann ruft zuerst seine Frau und dann der Sohn zurück, und beide berichten von einem Mann, dem wenig in seinem Leben so wichtig gewesen sei wie die Erinnerung an die Stadt Dresden und ihre Bombardierung im Februar 1945. Und das Erzählen darüber.

Spormann, Jahrgang 1929, war dabei. Im Luftschutzkeller des väterlichen Restaurants in der Altstadt überlebte er die ersten beiden Angriffswellen in der Nacht vom 13. auf den 14. Februar, als zuerst 250 britische Bomber über der Stadt erschienen, dann noch einmal 530. Sie warfen in dieser Nacht insgesamt zweieinhalbtausend Tonnen Bomben ab. Danach gab es nahezu die ganze Altstadt nicht mehr. Am folgenden Mittag und dem darauf kamen dann die Amerikaner, die Frauenkirche stürzte ein, und Dresdens Geschichte und Spormanns Leben waren fortan geteilt in ein Davor und ein Danach.

Barocke Pracht und eine zerstörte Stadt

Das Davor war das Dresden mit der barocken Pracht, das liebe, feine Schmuckstück, das Danach die wohl 25 000 Toten, eine nahezu ausgelöschte Stadt und die Erinnerung daran. Dresden heute ist wohl nicht denkbar ohne diese Nacht und diese zwei Tage vor 70 Jahren. Sichtbar sind die Zerstörungen von damals bis heute ohnehin.

Ausgerechnet Dresden. Im Gegensatz zu vielen anderen deutschen Städten lange verschont geblieben und dann kurz vor dem Kriegsende doch noch zerbombt.

Ausgerechnet Dresden, heißt es auch heute wieder. Diesmal angesichts des Erfolgs und der Hartnäckigkeit der Pegida-Bewegung, den vermuteten Folgen für den Ruf der Stadt und den Kämpfen, die seither in ihr ausgetragen werden.

Sozialwissenschaftler und Mentalitätsgeschichtler beugen sich über Dresden und suchen nach Erklärungen, das Fernsehen und die Zeitungen und Politiker auch und nicht zuletzt die Dresdner selbst.

Die Dresdner? Gibt es die überhaupt? Gibt es überhaupt „das Dresden“? Und falls ja oder nein, was heißt das dann für diesen 70. Jahrestag der Bombardierung? Kann der überhaupt noch angemessen begangen werden in dieser Stadt, die von außen betrachtet zumindest zweigeteilt, zerrissen erscheint in Pegida-Anhänger und Anti-Pegida-Demonstranten? Wie gedenkt man in Dresden?

Zum Beispiel so: Man geht ins Archiv. Steffen Liebscher jedenfalls hat es so gehalten. Er ist 32 Jahre alt und Historiker, und jetzt sitzt er unweit seines Büros in der Dresdner Neustadt an einem Kaffeehaustisch, schwärmt von den Beständen im Militärhistorischen Museum, in Stadt- und Staatsarchiv und erzählt von seinen Funden.

Im Notenheft findet er ein Tagebuch

„Du gehst da rein und findest ein Notenheft“, sagt er, lindgrüner Umschlag, mit Liedern drin, Walzern, Symphonien. „Und dann blätterst du immer weiter durch und weiter durch, da kommen dann auf einmal nur noch leere Seiten, du blätterst trotzdem weiter, und dann steht da irgendwann: ,Die Ereignisse vom 13./14. Februar – Zerstörung meiner Heimatstadt‘.“

Eberhard Spormanns Notizen. Verfasst im Jahr 1947, vor fünf Jahren von der Familie den Stadthistorikern überlassen. Liebscher las von der Nacht im Keller, von den Toten um Spormann herum, von denen der nichts wusste, weil es stockdunkel war. Von Tritten in dessen Gesicht, das war der Todeskampf eines Nachbarn. Wie Spormann schließlich irgendwie aus diesem Keller herauskommt und zusammen mit einem französischen Kriegsgefangenen durch die brennende Altstadt rennt. Am Morgen des 15. Februar zum Keller zurückkehrt und unter den Leichen dort seinen Vater erkennt.

Warum Goethe Dresden liebte - und Schiller die Stadt verabscheute

Bild der Zerstörung. Der Künstler Yadegar Asisi hat die bombardierte Stadt in einem Panorama von 107 mal 27 Metern verewigt. Manch einer wirft ihm vor, er bediene den Opfermythos.
Bild der Zerstörung. Der Künstler Yadegar Asisi hat die bombardierte Stadt in einem Panorama von 107 mal 27 Metern verewigt. Manch einer wirft ihm vor, er bediene den Opfermythos. Er selbst sagt: Wehret den Anfängen.

© Robert Michael/AFP

Liebscher, aus Greifswald stammender Sohn eines Schlossers und einer Kindergärtnerin, kam vor zehn Jahren nach Dresden. Er kennt die Stadt und ihre jüngere Geschichte längst bis in die Kleinigkeiten. Und doch, so sagt er es, sei es immer „ein besonderes Erlebnis“, auf Berichte wie jenen von Spormann zu stoßen oder sogar noch auf die Menschen selbst. „Das nimmt mich dann mit, im Wortsinn“, sagt er, „das ist eine Reise in eine völlig andere Welt, es entstehen Bilder im Kopf, man begreift wieder etwas, man meint, die Leute zu kennen. Beim ersten Anruf hätte ich fast gesagt: Hey Eberhard, wie geht‘s?“

Mit seiner Arbeit schreibt Liebscher fort, womit sich das Wort Dresden für viele Menschen verbindet. „In England oder Amerika, wenn ich gefragt werde, wo ich herkomme, sagen die Leute gelegentlich: Dresden? Kenn‘ ich.“ Wegen des Barock? „No, the bombing.“ In Dresden selbst sei der Februar 1945 tief im Bewusstsein der Stadt. „In Hamburg oder Berlin erlebe ich das nicht so, dass das Bewusstsein der Menschen so auf die Bombardierungen zugeschnitten ist“, sagt Liebscher. Er hat keine eindeutige Erklärung dafür, aber einige Vermutungen.

„Dresden, die Kulturstadt, die sich selbst womöglich für unantastbar hielt. Aber niemand ist im Krieg unantastbar.“ Diese brutale Lehre, sie wirke wohl nach.

Der Historiker hält Dresden für eine Stadt der Extreme

Ohnehin hält er Dresden für eine Stadt der Extreme. Sie war im 20. Jahrhundert erst eine Hochburg der Sozialdemokraten, dann der Nationalsozialisten. Die erste Bücherverbrennung der Nazis fand hier statt, ebenso die erste Ausstellung – „Spiegelbilder des Verfalls in der Kunst“ hieß sie – , die „entartete Kunst“ zeigte. Rückblickend betrachtet haftet dem etwas Streberhaftes an, so als wolle die Stadt ihren Obrigkeiten zeigen, was für gute Untertanen in ihr leben. Was wiederum vor allem deshalb besonders gut zu Dresden passen würde, weil sie jahrhundertelang Residenzstadt gewesen ist, die Obrigkeit also lange Zeit persönlich zugegen war.

Der Dichter Johann Gottfried Seume schrieb 1801: Viele Dresdner „scheinen auf irgendeine Weise zum Hofe zu gehören oder die kleinen Officianten der Collegien zu sein, die an dem Stricke der Armseligkeit fortziehen und mit Grobheit grollend das Endchen Tau nach dem hauen, der ihrer Jämmerlichkeit zu nahe tritt.“

Friedrich Schiller schrieb 1788, Dresden sei eine „Wüste der Geister“, die „Dresdner sind vollends ein seichtes, zusammengeschrumpftes Volk, bei dem es einem nie wohl wird.“ Der „edle Mensch geht unter dem hungrigen Staatsbürger ganz verloren“.

Verallgemeinerungen wie diese stimmen natürlich nie ganz. Wenn sie überhaupt stimmen. Waren die Pegida-Demonstrationen, die heute so sehr das Bild von Dresden prägen, nicht stets und ausdrücklich gegen die da oben gerichtet, also ganz und gar nicht untertänig gemeint?

Schon die Frage, ob Dresden tatsächlich schön sei, lässt sich nicht eindeutig beantworten. Der Dichter Heinrich von Kleist schrieb ein Jahr vor Seume in einem Brief: „Dreßden hat ... wenig Pracht und Geschmack“. „ Das kurfürstliche Schloß selbst kann man kaum finden, so alt und russig sieht es aus.“

Goethe liebte die Stadt. Ganz anders als Schiller

Goethe 1791: „Es ist ein unglaublicher Schatz aller Art an diesem schönen Ort.“

Der meistgelesene Dresden-Beschreiber der Gegenwart wiederum, der Schriftsteller Uwe Tellkamp, sieht die Stadt in seinem Roman „Der Turm“ als Lebensraum des selbstbewussten, aber sich aus vielem in seine Häuser zurückziehenden Bürgertums. Der Rivale Leipzig dagegen wird in Clemens Meyers Buch „Als wir träumten“ als Bühne der jungen, lauten, unartigen Leute beschrieben. Alles scheint sich draußen auf der Straße, in der Öffentlichkeit abzuspielen.

Falls dies gleichbedeutend mit Weltoffenheit sein sollte, haben Sozialwissenschaftler auch dafür eine mögliche Erklärung. Leipzig hat im Gegensatz zu Dresden seit Jahrhunderten eine Messe, ist Trubel und Fremde und Fremdes lange gewohnt und weiß, wie man leidlich miteinander auskommen kann.

Oder: Wer draußen durch sein Leben jagt, bekommt mehr und anderes mit als derjenige, der sich die Welt vom Sofa aus zusammenreimen muss.

Liebscher findet so einen Kontrast sogar in seiner Stadt selbst. Auf der Neustadt-Seite der Elbe seien die Leute gelassener, drüben in der Altstadt dagegen – „gehen Sie da mal in eine Bar“ –, er zögert etwas, dann sagt er: steif. Dem Biografiesucher behagt es nicht, in Klischees zu denken. Doch wenn es stimmt, was er sagt, dann ist die Neustadt gewissermaßen Dresdens Leipzig, die Altstadt Dresdens Dresden.

Man kann das fortsetzen. Es gibt Elbhangvillen in der Stadt und Neubaublöcke. Es gibt alteingesessene Ostler und zugezogene Westler. Pegida und No-Pegida. Und selbst Pegida hat sich ja neulich gespalten. Je genauer man hinschaut, umso mehr zerfasert alles.

Ein Bild der Zerstörung. Wie der Künstler Yadegar Asisi Dresden sieht

Bild der Zerstörung. Der Künstler Yadegar Asisi hat die bombardierte Stadt in einem Panorama von 107 mal 27 Metern verewigt. Manch einer wirft ihm vor, er bediene den Opfermythos.
Bild der Zerstörung. Der Künstler Yadegar Asisi hat die bombardierte Stadt in einem Panorama von 107 mal 27 Metern verewigt. Manch einer wirft ihm vor, er bediene den Opfermythos. Er selbst sagt: Wehret den Anfängen.

© Robert Michael/AFP

Der Mann, in dessen Auftrag Liebscher in den Archiven geforscht hat, kennt beide großen Sachsen-Städte gut. Er heißt Yadegar Asisi, ist in Wien geboren, in Halle und Leipzig aufgewachsen, im Dresden der 70er Jahre hat er Architektur studiert. Seit Mitte der 90er Jahre schafft er große Panoramabilder, so wie jenes, das seit 2012 am Checkpoint Charlie steht und einen Herbsttag an der Berliner Mauer zeigt.

Vor zweieinhalb Wochen ist sein jüngstes Werk eröffnet worden. Es zeigt Dresden am 15. Februar 1945, die Frauenkirche steht nicht mehr. Untergebracht ist es in einem ehemaligen Gasometer, etwas abseits gelegen hinterm Großen Garten, der damals auch bombardiert worden war. Viele Menschen hatten sich aus der brennenden Stadt dorthin geflüchtet.

Das Bild ist größer und augenfüllender als jedes Foto, jeder Fernsehschirm und jede Kinoleinwand es sein können. 107 Meter lang, 27 Meter hoch. Es zeigt die kaputte Stadt so, dass die die meisten Besucher nach dem Eintreten schweigen. Wer die Details sehen will, kann sich am Kassentresen Ferngläser ausleihen.

"Opfermythos? Sehe ich nicht", sagt er

Asisi sitzt in seinem Büro am Berlin-Kreuzberger Oranienplatz. Er muss den „Spiegel“ von letzter Woche gelesen haben, der seinem Dresden-Panorama bescheinigt, den Opfermythos – ein weiteres nicht ganz von der Hand zu weisendes Dresden-Klischee – zu bedienen. „Ich sehe nicht den Opfermythos“, sagt er, „ich sehe Opfer.“

Er wolle mit dem Bild auch überhaupt nicht auf die Schuldfrage eingehen, darauf, wer diesen Weltkrieg eigentlich angefangen hat, das helfe hier nicht weiter. „Ich sage“, sagt er, „Alles, was dazu führt, dass Sachen wie diese geschehen, darf nie wieder passieren. Alles, und damit meine ich auch die Anfänge.“ Er meint, versteht man ihn richtig, dass von seinem Bild eine universelle Nie-Wieder-Krieg-Botschaft ausgehe.

Er glaubt auch, dass dies gelingt. Die Leute gehen in sein Panorama, „schauen mit Betroffenheit, und mit dieser Betroffenheit gehen sie wieder raus in die Stadt und suchen vielleicht zum allerersten Mal, was sie da gesehen haben.“

Im Gästebuch überwiegt der Dank dafür. „Sehr nachdenklich gehe ich weg“, schrieb jemand, „und werde es vielen erzählen.“ „Ergriffenheit“, steht da, „berührend“, „erschreckend“, „Wehret den Anfängen!“, „Ich weine, ich weine.“

„Als Betroffene von der 1. Sekunde an und aus der ,Hölle‘ entkommen sind wir, mein Bruder und ich der Jahrgänge 29 u. 37. Es sollte den jungen Generationen zu denken geben und versuchen zu verstehen, ,nie wieder Krieg‘“

Die jungen Generationen. Asisi sagt: „Wir leben in einer Gesellschaft, wenn wir den Wasserhahn aufdrehen, kommt trinkbares Wasser raus. Wir vergessen das. 80 Prozent der Menschheit hat das nicht.“ Und weil wir das vergäßen, weil wir satt seien, hätten viele auch verlernt, dass beispielsweise die Demokratie Arbeit mache, dass man sie nicht einfach von den Altvorderen erben könne und dann ein schönes Leben damit habe. Sie sei anstrengend und oft auch unangenehm, immer wieder. Er münzt das auch ausdrücklich auf Dresden. Pegida, ob es einem nun passe oder nicht, damit habe sich etwas geöffnet, was vorher unter Verschluss oder unsichtbar gewesen ist. „Die Palette des Demokratischen“ sei größer geworden.

Spuren dieser Auseinandersetzung finden sich auch im Gästebuch. Jemand beschwert sich darin über die Schautafeln, die jeder, der ins Panorama geht, passieren muss. Sie informieren über Coventry, Rotterdam, Warschau, Stalingrad. Damit solle wohl der Angriff auf Dresden „entschuldigt“ werden.

Die Stadt verschweigt nichts

Das klingt ein bisschen nach „Kriegsschuldkult“, das Wort, das der Leipziger Pegida-Ableger im Munde führt. Es ist auch ganz und gar nicht das, was Asisi im Sinn hat, es ist einfach eine Unterstellung. Aber selbst Unterstellungen können ja zum Denken anregen. Zum Beispiel darüber, dass Dresden und Menschen wie Eberhard Spormann schon längst viel weiter sind. Sie rechnen nicht auf, sie bauen auch nicht die nächste Front auf.

Die Stadt verschweigt nichts, sie archiviert ja sogar Spormanns Notenheft. Liebscher lässt ihn – auch auf einer Schautafel – im Gasometer zu Wort kommen. Den Mann, der seinen Vater verlor und im Gedenken an ihn dessen Beruf ergriff. Spormann wurde Koch, obwohl er lieber Gärtner oder Förster gewesen wäre. Ging in die Bundesrepublik, nachdem die neuen Herren ihn lieber bei der Volkspolizei oder im Uranbergbau sehen wollten. Ging nach Sydney und Singapur.

„Das Komische“, hatte sein Sohn am Telefon gesagt, „man müsste ja irgendeine Art Wut entwickeln. Aber nee, da ist einfach nur Unfassbarkeit. Ich habe keinen Hass, auch mein Vater nicht.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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