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Klare Sache. Benno Schmidt, Jahrgang 1932, ist bei jedem Wetter auf dem Brocken.

© dpa/Matthias Bein

Deutsche Einheit: Ein Harz und eine Seele

„Es gibt so ’ne gewisse Bergsucht“, sagt Benno Schmidt. „Ist nicht heilbar.“ Also muss er rauf zum Gipfel, an beinahe jedem Tag, seit 28 Jahren. Denn in seiner Liebe zum Brocken hat er viel nachzuholen.

Schmidt weicht vom Weg ab. Verlässt die geräumte Asphaltstraße und stiefelt hinein in den alten und in den neuen vom Harzhimmel schießenden Schnee. Zerrt eine Bürste aus dem Rucksack und macht dann das, was er immer macht hier oben. Erstens: ein versäumtes Leben nachholen. Zweitens: es nicht dem Vergessen überlassen.

Benno Schmidt, Jahrgang 1932, der Brocken-Benno aus Wernigerode, Extrembergsteiger, Mittelgebirgsmaskottchen, bekanntestes Gesicht weit und breit. Fünf Aktenordner voller Zeitungsartikel über sich verwahrt er unten im Tal. Ein zum ersten Mal an diesem Vormittag gebückter, vor bald 86 Jahren geborener Mann mit einer Bürste in der Hand. Auf einem baumlosen Gipfelplateau. Inmitten einer von Schneepfeilen durchsetzten Eisnebelsuppe. Aufgestiegen seit dem Morgen dieses Februarfreitags auf den höchsten Berg in Deutschlands Nordhälfte, zum mindestens 8397. Mal. Oft genug hier oben gewesen also, um sich heimisch zu fühlen. Alt genug, um immer noch nachzuempfinden, gar nicht hier sein zu dürfen.

Schmidt fegt Schnee. Bis schließlich aus dem Weiß ein Granitgedenkstein ans Tageslicht kommt, versehen mit der eingemeißelten Inschrift: „Brocken wieder frei!“, in Großbuchstaben. „Ich habe gelesen, es gibt so ’ne gewisse Bergsucht“, hatte Schmidt unten gesagt. „Ist nicht heilbar.“

So oft wie niemand sonst

Nichts ist heilbar. Ziemlich genau an dieser Stelle hat Schmidt mehr als 28 Jahre zuvor Angst verspürt, so sehr, dass er die Momente von damals immer noch vor Augen hat.

Er war dabei, als am 3. Dezember 1989 auch auf dem Brocken die Mauer vom Volk aufgedrückt wurde und der Gipfel wieder zugänglich war für ihn und alle, die hier oben nicht bei den DDR-Grenztruppen, nicht bei der Roten Armee, der Stasi und der Volkspolizei beschäftigt waren. An den meisten der seitdem vergangenen Tage ist er hochgelaufen, so oft wie niemand sonst.

Ein früher Vorgänger, der Wernigeröder Sparkassenobersekretär Willi Fricke, der „Brockengeist“, schaffte bis 1941 500 Besteigungen. „Brocken-Willi“ Willi Beyer, ein Kaufmann, auch aus Wernigerode, kam bis zum Zweiten Weltkrieg auf 650. Erich Schröter aus Bad Harzburg, Schmidts schärfster und dennoch aussichtslos abgeschlagener Konkurrent, war – nach Krieg, deutscher Teilung und deutscher Wiedervereinigung – bis zum vergangenen Jahreswechsel mehr als 4800 Mal oben.

Schmidt sagt: „Ich habe das Gefühl, ich muss die versäumte Zeit nachholen. War ja versäumte Zeit.“ Kam ja nicht hoch. Wurde sogar mal festgenommen von der Volkspolizei, weil er sich verdächtig benahm, nämlich in den Wäldern ringsum unterwegs gewesen war. Zu Fuß!

Es steht 10288 zu 10339

In einigen Wochen wird in Schmidts Leben jener Tag anbrechen, den die Berliner gerade hinter sich haben. Dann wird der Brockengipfel genauso lange für Zivilisten wie ihn ein unzugängliches Sperrgebiet gewesen sein, wie er seit dem Mauerfall wieder offen für alle ist.

Schmidt packt die Bürste ein, es steht, gemessen in Tagen, 10288 zu 10339. 10288 Tage, an denen ein Staat seinen Bürgern erlaubt, auf einem Berggipfel Schnee wegzufegen, zu den 10339 gestohlenen.

Ob Schmidt sich die verlorene Zeit also bald zurückgeholt haben wird? Er denkt kurz nach, dann sagt er: „So sehe ich das nicht.“ Bald würde Gleichstand herrschen, ja, tatsächlich, meine Güte, so klar scheint ihm das gar nicht gewesen zu sein. Aber längst hat er genug andere Gründe, die ihn immer wieder den Berg hinaufzwingen.

Schmidt läuft weiter, hält die über den Kopf gezogene Kapuze seines 40 Jahre alten, von einer Westtante einst ins Westpaket gepackten Bundeswehrparkas fest, der Wind beißt nun von vorn. Die letzten Schritte, zum eisgepanzerten, hinter drei Meter hohen Schneewehen versteckten „Brockenwirt“, der Selbstbedienungshütte, in der er sein Tagwerk vollendet. Mit beschlagener Brille legt Schmidt eine Pappkarte auf den Tresen und lässt sich von der Wirtin den 8397. Anwesenheitsnachweis draufstempeln. Erst dann fällt alles Zielstrebige von ihm ab.

„Das ist er“, flüstert eine Frau

Der Brocken. Nach derzeit gültiger wissenschaftlicher Erkenntnis entstanden als eine Art Nachspiel zur allerersten deutschen Vereinigung, als sich vor 380 Millionen Jahren mitten im heutigen Europa mehrere Kontinentalplatten zusammengefügt hatten. Zum Urkontinent, als auch das heutige Nord- und Süddeutschland eins wurden. Magma staute sich anschließend unter der Erdkruste, kam nicht hoch, kam dann erstarrt und ungefähr 90 Millionen Jahre später doch hoch, weil der Urkontinent wieder auseinanderbrach. Der Brocken war da. Und Schmidt läuft nun auf ihm herum.

Benno Schmidt bei seinem 8397. Aufstieg auf den Brocken.
Benno Schmidt bei seinem 8397. Aufstieg auf den Brocken.

© Torsten Hampel

„Das ist er“, flüstert eine Frau aus Hildesheim ihrem Mann zu. Ob sie ihn fotografieren dürften, fragen sie Schmidt. Eine Vierergruppe junger Menschen aus Bremerhaven und Lüneburg spricht ihn an. Haufenweise Leute, die selbst an einem Tag wie diesem auf den Berg steigen oder von der Schmalspurbahn hergebracht werden, deren Dampflokschnaufen sogar den Wind hier oben übertönt. Niemand zählt sie, man kann nur schätzen. Mehr als eine Million Besucher, vielleicht zwei Millionen, sollen es im vergangenen Jahr gewesen sein.

Wohl keiner davon kam extra wegen Schmidt, doch etliche kennen ihn, haben von ihm gehört oder etwas über ihn gelesen oder sind über den Teufelsstieg rauf. Einen mit den Jahren immer breiter werdenden Wanderpfad, den es ohne Schmidts Penetranz den Brockenbehörden gegenüber nicht geben würde. Es ist der Weg, den Goethes Mephisto genommen haben muss.

Sie sind einander ähnlich geworden

Bis zum 13. August 1961, als zeitgleich zur Mauer in Berlin der Brocken zum Sperrgebiet erklärt wurde, kam Schmidt noch mit einem Passierschein hoch. Danach blieb ihm nur noch der Blick aus einer Dachluke seines Hauses in Wernigerode. War das Wetter gut, konnte er den Gipfel sehen. Raufschauen – an ungefähr 60 Tagen im Jahr ist das möglich – war erlaubt.

Aus Schmidts Brockenlogbuch:

„3.12.1989 Brocken offen“.

„5.12.1993 500 x“.

„26.8.1995 1000 x“, es war die Zeit, in der Wanderfreunde anfingen, ihn Brocken-Benno zu nennen.

„20.2.1999 Reinhold Messner getroffen“.

Am „20.6.2000 Hitze“, am „30.10.2000 Orkan“, am „17./18.7.2002 Dauerregen“. Am „30.5.2004 TV-Auftritt mit Maxi Arland und Inka Bause“.

Benno Schmidt und der Brocken, sie sind über die Jahre einander ähnlich geworden.

Flächen, so groß wie die Schweiz

„Der Brocken ist ein Deutscher“, schrieb Heinrich Heine im Jahr 1824, nachdem er selbst einmal hier oben war. Sie sind das auch, Herr Schmidt. „Ja, natürlich.“

„Mit deutscher Gründlichkeit“, schrieb Heine – und um die Betonung auf Gründlichkeit muss es ihm gegangen sein –, „zeigt er uns, klar und deutlich, wie ein Riesenpanorama, die vielen hundert Städte, Städtchen und Dörfer, die meistens nördlich liegen, und ringsum alle Berge, Wälder, Flüsse, Flächen, unendlich weit.“ Flächen, die so groß sein sollen wie die Schweiz. So sagen es jedenfalls die Nationalparkwächter auf dem Gipfel.

„Der Berg hat auch so etwas Deutschruhiges, Verständiges, Tolerantes“, schrieb Heine, „eben weil er die Dinge so weit und klar überschauen kann.“

So deutsch ist dieser 1141 Meter hohe Berg, dass im Erdgeschoss des Brockenhotels eine Ermahnung an der Wand hängt. „Der Verzehr mitgebrachter Speisen“ sei nicht erlaubt, steht auf einem Schild. Und zwar „im gesamten Objekt“.

Schmidt protokolliert:

Am 29.10.2017 „Sturm (Orkan (174 km/h), 1. Schnee)“.

Am 5.10.2017 „Orkan Xavier – 178 km/h“. 12.1.2012 „Sturmtief Elfriede“, am 31.12.2011 „Orkan Ulli“. „Orkan Kerstin mit Neuschnee“ kam am 12.3.2008, am 19.1.2004 war „Schneesturm/Ausnahmezustand“.

Goethe persönlich war einige Male hier oben

Schmidt schreibt auf, wem er begegnet ist, wann er im Fernsehen war und wann Politiker oben gewesen sind, mit denen er hat reden können. Und weil reden für ihn sehr oft heißt, zuallererst und manchmal mehrmals täglich auf die Frage nach dem Warum zu antworten, so oft, dass seine Erklärungen anfingen, einander bis aufs Wort zu gleichen, gibt es auch diese längst schriftlich.

Motivation Nummer eins, mit Schreibmaschine in Schmidts Autobiografiemanuskript getippt: der „Mythos Brocken“.

Der Mythos: die dunklen Fichten, die Felsklippen, das Hochgebirgsklima. Heine, Faust, Mephisto. Johann Wolfgang von Goethe persönlich war einige Male hier oben, seine Nationaleposhelden feiern auf dem Berg Walpurgisnacht. Der Teufel mochte den Brocken besonders. Als es ihn einmal nach Griechenland verschlug, ließ Goethe ihn so etwas wie Heimweh empfinden: „Auf meinem Harz der harzige Dunst/ hat was von Pech, und das hat meine Gunst“.

Zweitens: „Die Freude an der Natur und dem Wandern“. „Interessante Begegnungen mit vielen Menschen“ ist Punkt drei, dann kommen die „regelmäßige sportliche Betätigung“, „den Wanderrekord halten und verbessern“ und schließlich: „Der Name ,Brocken-Benno’ verpflichtet als Vorbild“. Sendungsbewusstsein ist vielleicht auch eine deutsche Eigenschaft. Der Hang zur Pflichterfüllung wohl ebenso. Wenn Schmidt jedenfalls einmal losgelaufen war, umgekehrt ist er nie.

Aus der Wut wurde Traurigkeit

Angefangen hat alles mit seinem Großvater. Der war Postbeamter und Stellmacher und Kürassier, ein gerahmtes Bild von ihm hängt unten in Wernigerode, in Schmidts Haus, das schon das Haus jenes Großvaters war. Den kleinen Benno nahm er regelmäßig mit hinaus in die Wälder, zum Holz machen. „Von ihm habe ich alles“, sagt Schmidt, „die Liebe zur Natur, zum Harz.“

Der Großvater starb, die Liebe blieb. Schmidt machte im Landratsamt eine Lehre, an den Wochenenden wanderte er, oft zum Brocken, übernachtete in Hütten und Zelten im Wald. Das Jahr 1961 kam, ein Fachschulstudium zum Handelsökonom, die Brockenmauer – 2276 Betonelemente, jedes 1,20 Meter breit. Es begannen die 10339 gestohlenen Tage, und mit ihnen kam die Wut.

Aus der Wut wurde Traurigkeit und aus Schmidt ein Referatsleiter beim Rat des Kreises und später ein Konsumgenossenschaftsdirektor. Der 3. Dezember 1989 brach an, Schmidt wurde zu einer Konferenz beordert, der 1. Sekretär der SED-Kreisleitung hielt einen Vortrag, es sollte um die Rettung der DDR gehen. Blöderweise hatte das Neue Forum für denselben Tag zu einem Sternmarsch aufgerufen, und ein Gerücht machte die Runde: Heute geht die Mauer auf. Schmidt stand auf und lief los.

Zahlen lassen sich addieren. Momente nicht

Wartete mit seiner Frau und Hunderten anderen oben vor dem Sperrgebiet. Er erlebt seitdem an fast jedem Tag die Angst von damals wieder, vor allem aber das Glücksgefühl, als das Tor in der Mauer aufging und er sich endlich traute, seine bis dahin versteckte Kamera hervorzuholen und Fotos zu machen. 8397 Mal.

Zahlen lassen sich addieren. Momente vielleicht nicht. Man kann sie aber erleben, jeden einzeln und für sich, immer wieder. So lange einen die Füße tragen.

In zwei Jahren, im Mai 2020, wird Schmidt 88. Ein Geburtstag mit Schnapszahl. In seinem Brockenlogbuch soll dann auch eine stehen. Die 8888.

Schmidt legt den Parka ab, streift sich einen Pullover über. „Für den Abstieg“, sagt er, „da friert man schneller. Vergessen viele.“ Setzt sich wieder in Bewegung, die Brockenstraße hinunter, dann rechts rein in den Wald. In zwei Stunden wird er den Parkplatz im Örtchen Schierke erreicht haben, von dem er am Morgen aufgebrochen ist. Schmidt läuft. Nach Hause. Zu sich.

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