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Gezielte Falschmeldungen werden täglich tausendfach in den sozialen Netzwerken geteilt.

© s: Tagesspiegel

Hetze im Netz: So kämpft der Faktenfinder der ARD gegen Fake News

Ein Bus voller Burkas, marodierende Flüchtlinge: Patrick Gensing entlarvt Fake News für die ARD. Die Hetze im Netz hat Folgen für das reale Leben – auch für sein eigenes.

Zum Beispiel das Foto mit dem Flüchtling, der sich grimmig vor einem Polizeibeamten aufbaut. Der bärtige Mann wirkt aggressiv. Auf den Hals hat er die Umrisse einer Kalaschnikow tätowiert. Sieht aus, als wolle er gleich losprügeln. Rechte haben das Bild im vergangenen Monat zigtausendfach im Netz verbreitet. Dazu Kommentare wie „So verachten diese Viecher unsere Demokratie“ oder „Sofort abschieben“. Patrick Gensing recherchierte und fand heraus, dass es sich bei dem Angreifer um den Schauspieler Vito Pirbazari handelt. Das Bild entstand am Set der Dreharbeiten für die Netflix-Serie „Dogs of Berlin“.

Im Fall von Vito Pirbazari war die Recherche nicht schwer. Gensing lud das Foto bei einer Suchmaschine hoch, die zeigte ihm an, wo im Internet das Bild noch zu finden ist. Reverse-Bildersuche heißt das. So gelangte er auf die Instagram-Seite des Schauspielers. „Leider ist das nicht der Standard“, sagt Gensing. Normalerweise muss er Statistiken vergleichen, Quellen suchen, Argumente einordnen. Er sagt: „Es ist so viel einfacher, eine Lüge in die Welt zu setzen, als sie zu entlarven.“

Patrick Gensing, 44, leitet den sogenannten Faktenfinder der ARD. Eine Anti-Fake-News-Einheit, gegründet im Frühjahr 2017, um populistischer Hetze in den sozialen Netzwerken etwas entgegenzusetzen. Er hat sein Büro im beschaulichen Lokstedt im Hamburger Norden, hier sitzt der NDR, gleich neben dem Tierpark Hagenbeck. Gensing sagt, manchmal höre er von drüben die Elefanten. Sein Zimmer liegt im Erdgeschoss. Links davon die Maske, in der die Moderatoren der „Tagesschau“ geschminkt werden. Rechts um die Ecke das Studio, wo die Nachrichten verlesen werden.

Ein verwackeltes Video auf Youtube

An diesem Donnerstagmorgen hat Gensing von einer Kollegin einen Link zugeschickt bekommen. Ein verwackeltes Video auf Youtube, auf dem der türkische Präsident Recep Erdogan zu einer kleinen Gruppe von Menschen spricht. Angeblich fordert er darin, die demokratische Kurdenpartei HDP systematisch zu benachteiligen. Wenn das stimmt, wäre es ein Skandal. Aber ist das Video echt? Patrick Gensing kann kein Türkisch.

Das Projekt Faktenfinder war ursprünglich eine Vorsichtsmaßnahme. Weil man nach den Erfahrungen der US-Wahl fürchtete, Russland könne versuchen, auch in den Bundestagswahlkampf einzugreifen. Troll-Armeen loslassen, die online Lügen und Falschmeldungen verbreiten. Die ARD wollte gewappnet sein. „Die Befürchtung hat sich zum Glück nicht erfüllt“, sagt Gensing. Viel zu tun hat er trotzdem.

Da war die Horrormeldung über Flüchtlinge, die Pferde essen. Oder die Geschichte, dass nachts an deutschen Grenzen leere Busse warten, um heimlich Hunderte Afrikaner nach Deutschland zu bringen. Oft geteilt wurde auch ein Bild, das angeblich einen Bus voller in Burkas verschleierter Frauen zeigt. Es diente als Beleg für die voranschreitende Islamisierung Europas. Wer genau hinschaut, erkennt aber, dass auf dem Foto gar keine Burkas zu sehen sind, nicht einmal Menschen. Es sind einfach leere Bussitze. Über Kollegen fand Gensing heraus, dass das Foto im August 2016 im Allgäu aufgenommen und von einem deutschen Twitter-Nutzer als Witz in die Welt gesetzt wurde.

Patrick Gensing, 44, ist durch seine Arbeit selbst zum Objekt zahlloser Verschwörungstheorien geworden.
Patrick Gensing, 44, ist durch seine Arbeit selbst zum Objekt zahlloser Verschwörungstheorien geworden.

© Wulf Rohwedder

Die vielen kleinen gezielten Falschmeldungen stehen selten für sich allein. Sie haben eine Funktion, sagt Gensing: „Sie sollen ein bestimmtes Narrativ unterfüttern.“ Häufig das der sogenannten „Umvolkung“, auch „Der große Austausch“ genannt. Gemeint ist der angebliche Plan der Bundesregierung, massenweise Nichtweiße ins Land zu holen und so das deutsche Volk auszulöschen – entweder durch Vermischung oder durch einen Bürgerkrieg. Mit diesen beiden Szenarien können Verschwörungstheoretiker praktisch jedes Regierungshandeln erklären. Bemüht sich ein Politiker um Integration, will er die Vermischung vorantreiben. Geht er restriktiv gegen Migranten vor, will er sie aufstacheln und einen Bürgerkrieg herbeiführen.

Gerade weil die einzelnen Meldungen Teil einer größeren Erzählung sind, sei es wichtig zu widersprechen, sagt Gensing. „Je öfter falsche Behauptungen wiederholt werden, umso größer ist die Gefahr, dass Menschen sagen: Ich habe das jetzt so oft gehört und noch nie etwas Gegenteiliges, das wird schon stimmen.“

Der Erfolg der Rechtspopulisten im Internet sei kein Zufall. Schließlich seien ihre Botschaften „einfach und emotional“ und beide Attribute beste Voraussetzung dafür, dass ein Thema gut in den sozialen Netzwerken läuft. Talkshows und Social Media scheinen wie gemacht für Rechtspopulisten. Wer am lautesten und schrillsten schreit, kann eine Dynamik der Aufregung in Gang setzen, kann sich mit gezielten Provokationen und vermeintlichen Tabubrüchen inszenieren.

Die Hetze hat Auswirkungen auf das reale Leben. Sie materialisiert sich in Angriffen auf Flüchtlinge, aber auch auf Politiker. Vergangenes Jahr wurde Andreas Hollstein, Bürgermeister der Kleinstadt Altena im Sauerland, von einem Betrunkenen niedergestochen. Es stellte sich heraus, dass der Angreifer den CDU-Mann bestrafen wollte, weil dieser seit Jahren Flüchtlinge unterstützt. Hollstein sagt, die wahren Täter seien diejenigen, die im Netz Hetze und Lügen verbreiten und so Menschen aufstacheln. „Das Gift, das dort gesät wird, findet Eingang in simple Gemüter.“

Ist er ein Linksterrorist und Diener der USA?

Seine Arbeit hat Patrick Gensing selbst zum Objekt zahlloser Verschwörungstheorien gemacht. Auf einer rechten Seite steht: „Er sieht aus wie ein Gymnasiast, hat es aber faustdick hinter den Ohren.“ Er sei ein Linksterrorist, ein zwanghafter Deutschlandhasser. Ein Diener der USA, der Putin verachte. Verbreiter transatlantischer Todespropaganda, die einen dritten Weltkrieg anzetteln wolle.

Die massiven persönlichen Angriffe lassen ihn nicht kalt, sagt er. Egal was er auf Twitter poste, sofort schrieben Fremde Sätze wie: „Du lügst doch sowieso nur“ und „Deine Zeit ist vorbei“. Einer drohte: „Für Sie ist ein Zimmer in Auschwitz reserviert, und Sie sind zur Wiedereröffnung eingeladen!“

Die Hetzer versuchen auch, Persönliches über ihn herauszufinden. Deshalb erzählt Gensing nicht viel von sich, nur dies: Er stammt aus dem Hamburger Umland, hat ein Volontariat beim NDR gemacht, drehte mal einen Fernsehfilm über seinen Lieblingsverein, den FC St. Pauli. War danach lange im Team von tagesschau.de, hat viel zu Rechtsextremismus recherchiert, „so die Schmuddelthemen“, sagt er. Als die Idee mit dem Faktenfinder entwickelt wurde, war er der perfekte Kandidat.

Anonyme Drohungen wie „Du Dreckstyp brauchst aufs Maul“ löscht er direkt. Andere, sachlicher formulierte Nachrichten beantwortet er, diskutiert auch mit Kritikern. „Allerdings nur solange ich das Gefühl habe, dass es dem anderen tatsächlich um die Sache geht.“ Viele wollen ihn bloß in langwierige Mailwechsel verwickeln, um ihn von seiner Arbeit abzuhalten. Auch die ARD erhält laufend Mails und Briefe, manchmal Faxe. In denen steht, dass Gensing gefeuert gehört. „Zum Glück habe ich starken Rückhalt im Haus. Es ist wie ein Schutzschild.“

Eingeschossen auf ihn hat sich auch Julian Reichelt, Chefredakteur der „Bild“. Er hält Gensing für ein „politisches Geschütz“ der Tagesschau, wirft ihm auf Twitter „Umerziehung durch Denunziation“ vor und schreibt: „Schön, dass wir uns dafür die ARD leisten.“

Nicht jedem einzelnen Lügentweet nachgehen

Gensing überlegt sich gut, was er überhaupt aufgreift, denn es sei kontraproduktiv, über jedes kleine Stöckchen zu springen, jedem einzelnen Lügentweet nachzugehen. „Damit gibt man ihnen eventuell Raum, den sie gar nicht verdienen.“ Und befeuert im Extremfall sogar die Verbreitung der Lüge. Weil das Wort „nicht“ ein abstraktes ist und in einem Sinnzusammenhang am ehesten vergessen wird. Wenn es heißt, eine unglaubliche Skandalgeschichte sei nicht wahr, besteht die Gefahr, dass am Ende nur die Skandalgeschichte hängen bleibt.

Patrick Gensing berät sich täglich mit den Kollegen aus dem Tagesschau-Team, welche aufgetauchte Fake News so wenig Verbreitung findet, dass sie sowieso niemand mitbekommt – und welche dagegen entlarvenswert ist. Beim Recherchieren helfen ihm die Experten, die im Haus für das jeweilige Thema zuständig sind. Auch auf das Netz der Auslandskorrespondenten kann er zugreifen. Gensing nennt dieses Netz den „großen Schatz des öffentlich-rechtlichen Rundfunks“. Im Fall des Videos, das angeblich den türkischen Präsidenten Erdogan zeigt, nimmt Gensing Kontakt zum Büro in Istanbul auf. Die Korrespondentin bestätigt den Inhalt. Sie sagt aber auch: Es gibt noch andere Videos im Netz, die diese Szene zeigen – und zwar aus unterschiedlichen Kameraperspektiven. Das Video ist kein „Leak“ einer geheimen Sitzung, lediglich die Aufnahme einer Wahlkampfveranstaltung – in der Türkei reichen die Aussagen nicht einmal für einen Aufreger.

Abgekoppelt von der Realität

Nach einem Jahr glaubt Gensing nicht mehr, dass er jeden überzeugen kann, wenn er sich nur genug Mühe gibt. „Wenn man eine Lüge entlarvt, antworten besonders Hartgesottene einfach mit: Ja gut, aber es hätte stimmen können.“ Dieser kleine Teil der deutschen Öffentlichkeit habe sich von der Realität abgekoppelt. „Solche Menschen wollen uns nicht glauben, da können wir noch so viele Quellen und wissenschaftliche Studien anführen.“

Stattdessen kämpft Gensing um diejenigen, die noch erreichbar sind für Argumente. Die vielleicht bloß etwas Orientierung brauchen. „Ich bin überrascht, wie viel positive Reaktionen wir bekommen. Wie viele Menschen sich melden und sagen: Danke, dass es euch gibt.“

Was hat er in dem Jahr selbst gelernt? „Meine Skepsis ist größer geworden. Auch gegenüber den Medien, die aus Zeitgründen schnell jede Agenturmeldung rauspusten, obwohl es besser gewesen wäre, noch mal in Ruhe gegenzurecherchieren.“ Der Online-Journalismus in seiner jetzigen Form sei arg fehleranfällig.

Weitere Erkenntnis: „Die Bereitschaft, an Falschmeldungen zu glauben, ist längst nicht nur auf Populisten begrenzt.“ Ein Bekannter von ihm, eigentlich ein sehr vernünftiger Mann, habe neulich ein Video verbreitet, das dokumentieren sollte, wie brutal die türkische Armee gegen Kurden vorgeht. Gensing schrieb ihm, das Video sei schon zwei Jahre alt und zeige Gräueltaten des IS. Der Bekannte antwortete: „Na gut, aber es hätte stimmen können, warum regst du dich hier so auf?“

Die finsteren Pläne der Arbeiterwohlfahrt

Manche Fake News sind dermaßen absurd, dass man sie für Satire hält – aber dasselbe gilt, und das ist noch schlimmer, auch umgekehrt. Immer wieder werden offensichtlich satirische Beiträge von Hetzern für echt gehalten und verbreitet. Etwa dass sich Linksradikale in einer GmbH organisieren und vom deutschen Staat Geld bekommen für die Teilnahme an Demonstrationen gegen rechts. Dass die Grünen zusammen mit der Arbeiterwohlfahrt Steinewerfer beauftragten, um die AfD zu stoppen. Kann niemand ernst nehmen, oder? Doch. Im Kosmos der Rechtspopulisten wird es als Wahrheit akzeptiert. Was nützt der Witz, wenn ihn keiner versteht?

Dazu die missglückten Forschungsexperimente. Der Hohenheimer Kommunikationswissenschaftler Wolfgang Schweiger versuchte etwa, Fake News in Umlauf zu bringen und dann zu beobachten, wie schnell sie sich verbreiten. Dafür setzte er einen Blog namens „Der Volksbeobachter“ auf und veröffentlichte dort die erfundene Nachricht, die Stadt Bad Eulen verteile an Migranten Bordell-Gutscheine. Der Artikel mit der Überschrift „Gratis-Sex für Asylanten – Landratsamt zahlt“ verbreitete sich schnell und schwappte bald von rechten Kreisen auf moderatere über. Die anschließende Richtigstellung des Wissenschaftlers wurde dagegen deutlich weniger verbreitet. Dürftiges Fazit des Versuchs: „Mit wenig Aufwand lässt sich eine große Reichweite erzielen.“

Patrick Gensing sagt, es gebe längst genug Beispiele für diesen Mechanismus. Und keinen Bedarf, das künstlich zu initiieren. „Ich wäre da sehr zurückhaltend.“

Anders als gern angenommen komme die Masse der Hetze nicht aus Troll-Fabriken, sagt Gensing. Zwar gibt es tatsächlich Profile, die professionell betreut werden. Die so wirken, als arbeiteten sie im Zwei-Schicht-System. Die von 9 bis 23 Uhr kontinuierlich posten, zu unterschiedlichen Themen, sich in Debatten mit anderen Nutzern einschalten. „Da spricht viel dafür, dass solche Accounts nicht von einem einzelnen Rentner betreut werden.“ Allerdings hält er es für sehr unwahrscheinlich, dass „all das von irgendwelchen technikaffinen Russen aus St. Petersburg kommt“.

Was jedoch nicht weniger erschreckend ist: die Einsicht, dass es genug gewöhnliche Bürger gibt, die diese Hetze von sich aus verbreiten, ohne Auftrag und Bezahlung, ehrenamtlich quasi. Einfach, weil es ihnen wichtig ist.

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