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I say yes, you say no. Es war die Nacht in Schottland, von der sich die einen das Größte erhofft und von der die anderen das Schlimmste erwartet haben.

© REUTERS

Schottland nach dem Referendum: Der Weg zurück zur Einheit

Auf die eine Frage haben die Schotten eine Antwort gefunden: „No, thanks“ – keine Unabhängigkeit. Doch am Tag nach dem Referendum stellt sich plötzlich eine weitaus größere: Wie findet ein gespaltenes Volk wieder zusammen?

Am Ende müssen Fiona und Alan O’Connor gemeinsam mit all ihren Gästen nur noch vergessen lernen. Schließlich kennen sie am Tisch sämtliche Nachbarn mit Namen, die „Yes“ gestimmt und die Gemeinschaft mit England verraten haben. Das weiß man nach monatelangem Wahlkampf voneinander.

Alan O’Connor ist am Tag der Abstimmung noch mal mit seinem roten Porsche und einem riesigen „No“-Zeichen durch Edinburgh gefahren. Jetzt ist Donnerstagnacht, die Auszählung läuft, und die beiden geben eine Wahlparty. Aus dem ersten Stock hängt ein Union Jack. Fiona, blond und Mitte vierzig, trägt die britische Flagge auch am Körper, als Minikleid mit glitzernden Pailletten.

Zu trinken gibt es viel, nüchtern will keiner bleiben, egal ob sie sich später vor Entsetzen oder vor Freude aneinander festhalten werden. Um zehn Uhr abends schließen die Wahllokale, um Mitternacht klirren die Gläser das erste Mal: Eine Umfrage sieht das Lager der Abspaltungsgegner vorn.

Ein paar Kilometer weiter wickelt sich Isabel Muldownie fest in ihre Sofadecke und stellt den Fernseher lauter.

4,3 Millionen waren aufgerufen, 85 Prozent haben gewählt

Es ist die Nacht in Schottland, von der sich die einen das Größte erhoffen und von der die anderen das Schlimmste befürchten. Seit sieben Uhr morgens haben die Menschen über die Abspaltung Schottlands von Großbritannien abgestimmt. Noch vor den Eingängen zu den Wahllokalen standen die Freiwilligen beider Kampagnen, der „Yes“-Truppe für und der „No“-Mannschaft gegen die Unabhängigkeit. 4,3 Millionen Einwohner waren aufgerufen, 85 Prozent von ihnen sind wählen gegangen. Auf dem Wahlzettel stand die existenziellste Frage, die sich ein Volk stellen kann. Soll Schottland ein unabhängiges Land werden? Am Ende entscheidet sich eine Mehrheit für die Union.

Isabel Muldownie glaubt bis zum Schluss an den Sieg für „Ja“. Die Rentnerin sitzt schon seit zwei Tagen fast ununterbrochen im Wohnzimmer ihrer Dreizimmerwohnung auf ihrer großen braunen Ledercouch und schaut BBC. „Es ist aber auch so spannend“, sagt sie zu ihrer Tochter am Vorabend der Wahl. „Schau, Vivienne Westwood ist in der Talkshow, sie ist auf unserer Seite.“ In ihrer Familie sind „alle ein Ja“: sie, ihre Tochter Susan und vor allem Ruby, die neunjährige Enkelin. Sie sind sauer. Warum? Weil Ruby ihr „Yes“-Abzeichen in der Schule auf Geheiß ihres Lehrers ablegen musste. „Das ist aber nicht alles“, sagt Susan Muldownie. „Dann haben sie ihr ein Video gezeigt, in dem es hieß, wenn wir als Staat in Zukunft Probleme haben, dann hilft uns keiner mehr.“ Die Kleine versucht erst ihrer Mutter den Mund zuzuhalten und sagt dann leise: „Aber wenn du krank wirst, Oma, dann zahlt niemand mehr deine Operation.“ Isabel Muldownie, die am nächsten Morgen eine kleine Operation am Finger hat, streicht ihr über den Kopf. Sie haben sich bei Rubys Schule beschwert. Auch solche Erzählungen werden bleiben von diesem Wahlkampf, sie passen so schön ins Bild, das sich die Lager voneinander gemacht haben.

Wer mit "Yes" stimmte, wer mit "No"

I say yes, you say no. Es war die Nacht in Schottland, von der sich die einen das Größte erhofft und von der die anderen das Schlimmste erwartet haben.
I say yes, you say no. Es war die Nacht in Schottland, von der sich die einen das Größte erhofft und von der die anderen das Schlimmste erwartet haben.

© Cathal Mcnaughton/Reuters, AFP

„Die Leute hatten Angst“, sagt Linda Fabiani. „Vielleicht haben wir unterschätzt, wie gut die Negativkampagne gewirkt hat.“ Sie ist Abgeordnete der Schottischen Nationalisten (SNP) in East Kilbride, einem Arbeitervorort von Glasgow. Ihr Bürogebäude ist direkt an ein Shoppingcenter gebaut. Es heißt „Princes Mall“ und gilt als Herz der Stadt. Vor dem Eingang des Centers hat Linda, die gerne knallige Farben trägt und einen sehr festen Händedruck hat, in den vergangenen Monaten fast jeden Tag gestanden und Wahlkampf gemacht. Viele hier sind arbeitslos oder machen Jobs für kleines Geld, Kürzungen in den Sozialsystemen treffen sie besonders heftig, die Wut auf die englische Regierung in Westminster ist groß. Die Versprechen der Abspaltungsbefürworter wurden deshalb ziemlich begeistert aufgenommen.

Beim Erdrutschsieg der Nationalisten über die Labourpartei 2011 hat Linda Fabiani das Mandat für diesen Wahlkreis geholt, in dem sie lebt und arbeitet. So eine Sensation haben sie sich auch diesmal erhofft. Aber schon bevor alle Bezirke ausgezählt sind, wird klar, dass das nicht klappen wird.

Sie war die ganze Nacht auf. Jetzt ist sie "sehr, sehr enttäuscht"

Linda Fabiani hat nur wenige Stunden geschlafen, sie war die ganze Nacht selbst beim Auszählen der Stimmen dabei. Sie klingt müde und ist „sehr, sehr enttäuscht“. Auch der Bezirk South Lankashire, zu dem East Kilbride gehört, hat sich für „Nein“ entschieden, mit 55 zu 45 Prozent. Linda glaubt zwar, dass in East Kilbride und Umgebung selbst die Abspaltungsbefürworter gesiegt haben, aber um das genau zu wissen, muss sie auf die Auswertungen warten. In den nächsten Tagen werden sie und die anderen SNP-Abgeordneten sich mit Parteichef Alex Salmond in Edinburgh treffen.

Dass sie ihren Traum von der Unabhängigkeit aufgibt, steht für Linda Fabiani außer Frage. Dafür sei das Endergebnis dann doch zu knapp gewesen. Einer von Fabianis Helfern, der immer am Shoppingcenter-Eingang Flugblätter verteilt hat, kämpfe schon seit 65 Jahren für die Unabhängigkeit, damals hieß die Home rule, erzählt sie. Für solche Leute will sie sich einsetzen und dafür sorgen, dass die in den vergangenen Wochen von London versprochene stärkere Selbstbestimmung wirklich kommt.

Noch ist nicht klar, ob die Nationalisten aus diesem Referendum geschwächt oder gestärkt hervorgehen. Vereinzelt wird schon wieder darüber diskutiert, ob ein neues Referendum in ein paar Jahren nicht unumgänglich sein wird – vor allem dann, wenn die Briten die EU verlassen sollten.

Sie sind reich. Sie haben viel zu verlieren

Eine These, die in der Nacht der Abstimmung von den Wahlanalysten in Schottland aufgestellt wird, lautet: Vor allem die armen, städtischen Bereiche haben für die „Yes“-Kampagne gestimmt, so wie eben Glasgow. Vielleicht ist es ein Zufall, aber die rund 20 Gäste auf der Wahlparty von Alan und Fiona O’Connor haben viel zu verlieren. Einfach ausgedrückt: Sie sind reich.

Kurz nach den ersten Hochrechnungen lässt sich Alan erleichtert auf einen Stuhl fallen, die anderen Gäste stehen am Buffet, das auf einer Kochinsel angerichtet ist. „Ich würde auswandern, wenn ,Ja‘ gewinnt“, sagt Alan O’Connor. Er hat eine leichte Sommerbräune und vor kurzem seinen 50. Geburtstag mit den Freunden in seinem Haus in Südfrankreich gefeiert. Im Regal stehen Fotos der fröhlichen Runde in bunten Kleidern mit Sektgläsern in der Hand.

Sein Geld hat er mit unterschiedlichen Firmen und Immobilien verdient, erzählen seine Freunde ehrfürchtig. Er könnte von überall arbeiten. „Nach Schottland würde ich erst wieder zurückkommen, wenn sich hier alles stabilisiert hat“, sagt Alan O’Connor und schüttelt den Kopf: „Wer will schon neue Grenzen?“

Streiten, schreien und versöhnen

I say yes, you say no. Es war die Nacht in Schottland, von der sich die einen das Größte erhofft und von der die anderen das Schlimmste erwartet haben.
I say yes, you say no. Es war die Nacht in Schottland, von der sich die einen das Größte erhofft und von der die anderen das Schlimmste erwartet haben.

© REUTERS

Aus dem hell erleuchteten Haus, in dem die Stimmung zur späten Stunde immer weiter steigt, ist es nicht weit bis zum Hauptquartier der „Yes“-Kampagne in Edinburgh. Eigentlich war auch hier eine Party für alle Helfer geplant, inklusive Einlassliste wegen zu hohen Andrangs. Doch bereits kurz nach den ersten Umfrageergebnissen liegt die Straße vor dem Haus verlassen im Nebel, das Buffet vom indischen Lieferservice bleibt erst mal stehen.

Reden will niemand so wirklich, auf der großen Leinwand zeichnet sich die Niederlage ja deutlich genug ab. Der Pub unten im Haus hat zwar seine Lizenz bis morgens früh um acht verlängert, jetzt fegt der Wirt aber schon die letzten Gäste vor die Tür. „Was soll man machen?“, fragt einer und zuckt mit den Schultern. „Immerhin waren die Leute wählen.“

Das ist es auch, was die Gäste in den Talkshows schon am Abend feiern. Dass sich so viele Leute für Politik engagiert und abgestimmt haben. Darüber, sagt der traurige „Yes“-Anhänger mit der Schottlandflagge in der Hand, könne er sich dann vielleicht ebenfalls freuen. Morgen.

Im Fernsehen bejubeln die BBC-Moderatoren den „Sieg des Volkes“. Die Rentnerin Isabel Muldownie zieht sich in ihr Schlafzimmer zurück, da hat sie einen kleinen Fernseher. Als die Ergebnisse für Edinburgh verlesen werden, ist es schon nach sechs Uhr früh. Die Stadt hat mit großem Abstand für „Nein“ gestimmt. Im Haus der O’Connors liegen sich die Gäste in diesem Moment, sofern nicht auch schon im Bett, mit Sicherheit einander in den Armen.

Salmond wird nicht noch einmal kandidieren

Irgendwann am Morgen landet Abspaltungsanführer Alex Salmond mit seinem Privatflugzeug in Edinburgh. Per Twitter lässt er wissen: „Lasst uns uns nicht mit dem Abstand aufhalten, mit dem wir verloren haben. Sondern mit der Distanz, die wir zurückgelegt haben.“ Am Abend gibt Salmond seinen Rücktritt bekannt.

Es gibt in Schottland an diesem Tag danach aber noch eine ganz andere Distanz, an derer beiden Enden sich Schotten für „die wahren Patrioten“ halten. Wahrscheinlich hätten Isabel Muldownie, die ihr Erspartes dafür auf den Kopf haut, um mit Tochter und Enkelin einmal Urlaub in Disneyworld zu machen und die O’Connors, auf deren Gästetoilette ein Bild vom letzten Jachturlaub mit Champagner hängt, nie behauptet, viel gemeinsam zu haben – doch am Freitagmorgen trennt sie eine ganze Welt. Wie sie wieder zusammenfinden wollen? Dafür hat bislang niemand wirklich einen Plan. Es wird sich zeigen müssen, wie tief der Riss durch die Gesellschaft, durch Familien und Freundeskreise wirklich geht. Ob sie sich ihre Entscheidungen verzeihen können und wie viel Bitterkeit bleibt. Gemeinsam ist allen Parteien nur, dass sie von den Engländern mehr Rechte verlangen, über den richtigen Weg werden sie sich vielleicht nie einig werden.

Der Schottland-Minister Alistair Carmichael erklärte am Freitag: „Wir haben an diesem Morgen eine Menge beschädigter Beziehungen in Schottland.“

Die SNP-Abgeordnete Linda Fabiani versucht dem mit Pragmatismus zu begegnen: „Wir Schotten“, sagt sie. „Wir streiten uns, wir schreien uns an. Und dann versöhnen wir uns wieder.“

Der Text erschien auf der Dritten Seite des gedruckten Tagesspiegels.

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