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Das Dorf Alwine in Südbrandenburg. Viel ist hier nicht mehr los.

© AFP/Tobias Schwarz

Zukunft auf dem Land: Ein Dorf für Erfinder

Investoren haben den Menschen von Alwine schon alles Mögliche versprochen. Wenig blieb. Neuester Versuch: Der 15-Einwohner-Ort soll ein Erfinderdorf werden.

Von Andreas Austilat

Gerhard Muthenthaler hat eine besondere Gabe. „Ich sehe nicht, was vor mir steht“, sagt er in seinem österreichisch gefärbten Tonfall, „ich sehe, was daraus entstehen könnte.“ Diese Gabe braucht der Mann mit der Vorliebe für ausgefallene Socken – im Moment trägt er welche mit Currywurstmotiv. Denn seit 20 Jahren berät er Erfinder, wie sie den Durchbruch schaffen können. Und ohne Frage hilft dem 45-Jährigen sein visionärer Blick, auch Alwine mit anderen Augen zu sehen. Nur fällt es nicht jedem leicht, ihm zu folgen.

Alwine ist ein ehemaliges Bergwerksdorf 120 Kilometer südlich von Berlin. Leicht kann man die Abfahrt zu dem von Wald umschlossenen Weiler verpassen. Die einzige Straße des winzigen Ortes führt vorbei an verfallenden Häusern, drei Autowracks rosten vor sich hin, unter schadhaftem Putz lugt rotes Ziegelwerk hervor wie rohes Fleisch. Erstes Lebenszeichen sind zwei bellende Hunde in ihrem Zwinger.

„Natürlich ist der Ort noch ein bisschen maroder, als wir das nach dem Betrachten der Bilder erwartet hatten“, aber Muthenthaler sieht eben mehr: Für ihn und seinen Geschäftspartner Marijan Jordan wird Alwine das Erfinderdorf sein. Eine Art Schaufenster, in dem Ideen präsentiert und auf ihre Praxistauglichkeit getestet werden. Solardachziegel zum Beispiel oder wärmende Fassadenfarben.

Ein Berliner Immobilienkaufmann hat das Dorf vor einem halben Jahr für 140.000 Euro erworben. Er will anonym bleiben. Muthenthaler und Jordan, Betreiber des Erfinderladens in der Lychener Straße in Prenzlauer Berg, sind für ihn angetreten, die Vision zu realisieren.

Ein ganzes Dorf in einer Hand

Nun gibt es viele Orte im Osten Deutschlands, in denen in den letzten 30 Jahren Männer mit Visionen auftauchten. Doch Alwine ist besonders: Der ganze Ort, auch wenn er nur aus fünf Doppelhaushälften, einem Zweifamilienhaus, einem Einfamilienhaus, zwei Mehrfamilienhäusern und diversen Nebengelassen besteht, gehört nur einem Eigentümer.

Ein Kuriosum, wie es nach der Wende nur auf dem Gebiet der früheren DDR entstehen konnte, wo ehemals zum Volkseigentum deklariertes Vermögen neuen Eigentümern angeboten wurde. Als dieses Dorf dann vor einem Jahr versteigert wurde, schaffte es die Nachricht sogar in die Schlagzeilen der überregionalen Zeitungen.

Einen ganz anderen Blick auf Alwine hat Erika Kühne. Sie hat Muthenthaler und Jordan vor fast einem halben Jahr kennengelernt. „Da kamen zwei Männer“, erinnert sie sich, „sie trugen weiße Mäntel.“ Begleitet wurden die beiden von einem Fernsehteam und weiteren Journalisten.

Das mit den weißen Mänteln ist das erste Detail, das Frau Kühne nach fünf Monaten in den Sinn kommt. Sie selbst trägt am liebsten eine bunte Kittelschürze. Die 80-Jährige ist die älteste Einwohnerin des Ortes und lebt seit 1961 in Alwine Nummer 104, einem zweistöckigen Mehrfamilienhaus mit spitzem Dach. Die Straße heißt wie der Ort, seltsam, dass alle Hausnummern hier dreistellig sind.

Erika Kühne und Paul Urbanek blicken mit Skepsis auf die großen Pläne.
Erika Kühne und Paul Urbanek blicken mit Skepsis auf die großen Pläne.

© dpa/Patrick Pleul

Auf dem Klingelschild der 104 stehen nur noch zwei Namen. Erika Kühne sitzt vor dem mausbraunen Bau auf einem weißen Plastikstuhl und blinzelt in die Oktobersonne. Ihren Gehstock hat sie daneben gelehnt. Der Rücken macht ihr zu schaffen, die Beine auch, das Erbe eines arbeitsreichen Lebens.

Früher hat sie in der nahen Brikettfabrik gearbeitet. Der hämmernde Takt, in dem das Presswerk die rechteckigen Kohlestücke ausspie, war die nie versiegende Geräuschkulisse in den Wäldern ringsum. Bis Anfang der 90er Jahre, als die Briketts der Region nicht mehr gefragt waren, das Klackern verstummte. Die Brikettfabrik ist heute Museum.

Schrumpfend und isoliert

Bis 2001 schien sich niemand mehr für Alwine zu interessieren. Bis zwei Männer kamen, auch sie trugen Mäntel, lang und dunkel, wie sich Frau Kühne erinnert. Diese beiden waren Brüder und kamen aus Berlin, einer von ihnen war Immobilienmakler. Seinerzeit hatte er 95.000 DM an die Treuhand bezahlt, für das gesamte Dorf mit seinen 16.000 Quadratmetern. „Versprochen haben die beiden alles Mögliche“, sagt Frau Kühne. Geschehen sei nichts. Und nun soll alles anders werden? Sie guckt skeptisch.

In Alwine schritt der Verfall voran, setzte die große Flucht ein. Dorthin, wo es Arbeit gibt und dichte Dächer, wo die Heizungen funktionieren und das Internet, wo es wenigstens eine Kneipe gibt. Ein bisschen schien es so, als ob das Miniaturdorf das Schicksal der Nachwende-DDR im Kleinformat durchleiden sollte, und zwar für immer. Oder wenigstens bis sich der Boden auftun würde und die Reste einfach verschluckt. „Achtung Lebensgefahr“, steht auf Schildern entlang der nahen Landstraße – die alten Braunkohlestollen dicht unter der Oberfläche könnten plötzlich einbrechen.

Alwine versank nicht. Aber die einzige Kneipe in der Nähe, die alte Kumpelklause, in der Erika Kühne mit ihrem Mann tanzen ging, machte dicht. Dr. Kuhl, der Werksarzt aus Kohlezeiten, war schon weg, Zahnarzt Schulz folgte. 50 Bewohner hatte Alwine Anfang der 2000er Jahre noch, etwa 15 sind bis heute geblieben. So genau weiß das niemand, denn ziemlich viele dieser 15 haben kein Interesse an der übrigen Welt. Meiden sie sogar, wenn sie können, halten ihre Türen verschlossen. Die Frau aus der 103 steht draußen, reden will sie nicht, läuft sogar weg.

Vor einem Jahr starb einer der beiden Eigentümer-Brüder, der andere bot das Gemeinwesen zur Versteigerung an. Marijan Jordan hörte die Nachricht im Radio. Wenn der 45-Jährige, ganz in Schwarz gekleidet, die Haare zu einem kurzen Pferdeschwanz zusammengebunden, spricht, klingt seine Salzburger Herkunft durch. Er erzählt, wie er zu träumen anfing, welche Chancen sich da auftun würden, besäße man ein ganzes Dorf. Jordan und Muthenthaler verpassten ihre Chance, ein anderer erhielt den Zuschlag für Alwine.

Das Dorf Alwine verfiel jahrelang, wurde verkauft, dann versteigert, erneut verkauft – und soll nun als Heimat für Kreative auferstehen.
Alwine verfiel jahrelang, wurde verkauft, dann versteigert, erneut verkauft – und soll nun Heimat für Kreative werden.

© promo

Kurz darauf bat der neue Eigentümer, von diesem Geschäft erlöst zu werden. Aus gesundheitlichen Gründen, lautete die offizielle Erklärung. „Weil er Alwine erst danach das erste Mal gesehen hat“, glaubt Paul Urbanek. Der 71-Jährige, der wegen seines Küstendialekts und des weißen Vollbarts wirkt wie ein Seemann auf Landgang, ist Erika Kühnes einziger verbliebener Nachbar in der Nummer 104 mit ihren einstmals acht Wohnungen.

Ein Erfinderdorf am Ende der Welt

Der neue Eigentümer schickte die Männer in den weißen Mänteln nach Alwine. Gerhard Muthenthaler muss lachen, wenn ihn heute einer an die Episode erinnert. Es ist kein hämisches, sondern mehr so ein „Um Himmels Willen“-Lachen. Natürlich ist ihm klar, dass sein Auftritt befremdlich gewirkt haben muss. Aber die weißen Kittel sind Teil ihrer Inszenierung als Erfinderberater.

Erfinden, sagen die beiden, ist das eine. Viel wichtiger aber sei die Vermarktung. Das ginge nicht ohne Öffentlichkeit, ohne ein wenig Show. „Läge Alwine am Berliner Stadtrand“, sagt Muthenthaler und streicht sich über den kahlrasierten Schädel, „wen würde das interessieren?“ Aber ein Erfinderdorf am Ende der Welt, das sei doch ganz etwas anderes.

Vor 21 Jahren waren die beiden selbst an einer Erfindung beteiligt. Ihre „Contact Watch“ sollte Interessen und Vorlieben speichern und sich zu erkennen geben, wenn Gleichgesinnte in der Nähe sind. Aber Muthenthaler und Jordan waren ihrer Zeit zu weit voraus, produzieren wollte ihre Uhr niemand.

Seitdem wissen sie: Erfinder brauchen Berater. Die wollten künftig sie sein. Und eines ihrer Marketinginstrumente wurde der Laden in Prenzlauer Berg. Was für Erfindungen sie denn da so feilbieten? Muthenthaler greift ins Regal, holt eine schwarze Tasse hervor. Füllt man eine heiße Flüssigkeit hinein, färbt sie sich weiß, es erscheint Maria mit dem Jesuskind. Er lacht, das ist eigentlich mehr ein Scherz, eine Hommage an seine katholische Heimat.

Natürlich braucht man Alwine nicht, um solch eine Erfindung zu präsentieren. Alwine soll die großen Themen ansprechen, Energie zum Beispiel. So wie die Solardachziegel des Tesla-Gründers Elon Musk. Die könnte man im Laden zeigen. Aber wie viel besser wäre es, ein Haus zu haben, auf dem sie funktionieren?

Muthenthaler und Jordan träumen von Erfinder-Wohngemeinschaften, die für ein halbes Jahr in Alwine leben, Kost und Logis frei, die miteinander im Austausch stehen und über ihre Ideen bloggen. Ungefähr so wie Stadtschreiber, die sich manche Kommunen als Stipendiaten leisten. Es habe auch schon Bewerber gegeben, darunter jedoch eher kuriose Fälle wie die Frau, die ein Heim für ihre 19 Katzen suchte. Aber die beiden sind ja noch in einer frühen Phase. In welcher? „Ich würde sagen: Phase zwei“, sagt Jordan. Wie viele noch kommen, vermag er allerdings nicht zu sagen. Und auch nicht, wie viel Geld sie auf diesem Weg investieren wollen.

Der angeblich dunkle Osten

Die beiden Österreicher erinnern sich an ihre erste Fahrt nach Alwine. „Es ist doch so“, sagt Muthenthaler, „der angeblich dunkle Osten wird auch medial so dargestellt, dunkel eben, ausgeblutet, abgehängt.“ Und dann sahen sie die frisch gestrichenen Fassaden und die lasierten Ziegel auf ihrem Weg durch Brandenburg. „Meine niederösterreichische Heimat“, er kommt aus einem Dorf im Wiener Umland, „war verglichen damit einst viel kaputter.“

Als sie freilich auf ihrer Fahrt einen offenen Gasthof suchten, blieben sie auch beim dritten Versuch vor verschlossenen Türen, blickten stattdessen auf die Plakate für irgendwelche Ü-50-Singlepartys, die einmal im Monat stattfanden. Was sie nur darin bestärkte, die Gegend brauche neue Initiativen.

Deren Wirkung können Erika Kühne und Paul Urbanek noch nicht so recht erkennen. Urbanek hat die Schlüssel für viele leere Häuser in Alwine. Bereitwillig schließt er die Türen zu den Wohnungen in den oberen Etagen seines Hauses Nummer 104 auf. Sie stehen seit Jahren leer. Ferrari-Poster an der Wand zeugen davon, dass hier wohl einmal ein Jugendzimmer gewesen ist. Das Linoleum auf dem Boden ist halb herausgerissen, darunter kommt eine Ausgabe des „Neuen Deutschland“ vom 11. Februar 1967 zum Vorschein. „Weststaaten sollten die DDR anerkennen“, lautet die Schlagzeile.

In einem ansonsten kahlen Raum steht eine neue Vorwandinstallation, an die demnächst eine Toilette angeschlossen werden soll. Ein neues Wasserrohr gibt es auch schon, aber die Handwerker sind seit einer Woche nicht mehr aufgetaucht. Urbanek fürchtet sogar, dem neuen Investor könnte bereits das Geld ausgegangen sein. Er mag auch nicht daran glauben, dass einer der ehemaligen Eigentümer-Brüder verstorben ist. Hält es sogar für möglich, dass der sich lieber abgesetzt hat. Wie so viele in Alwine. Erika Kühne nickt.

„Es ist nicht leicht, Handwerker zu kriegen in diesen Zeiten“, erklärt Muthenthaler in seinem Laden in Prenzlauer Berg die gegenwärtige Verzögerung. „Aber natürlich geht es weiter.“ Noch im November würden die Dachdecker kommen, auch an den Bädern werde weitergearbeitet. „Es ist besser, unvollkommen anzupacken, als perfekt zu zögern“: Der Spruch steht an der Wand über seinem Kopf. Er ist von Thomas Alva Edison.

Showrooms, Werkstätten und Labore

Die Handwerker sind freilich nicht ihr einziges Problem. „Die Leute wissen nicht genau, welche Visionen ich für Alwine habe“, sagt er, „die können ja nicht in meinen Kopf gucken.“ Denen gehe es wie jemandem auf dem Beifahrersitz, dem man immer wieder versichere, „mach dir keine Sorgen, ich weiß, wo es hingeht.“ Natürlich resultiere daraus eine gewisse Unsicherheit oder sogar Angst.

Vielleicht wollen die Alwiner aber auch gar nicht wissen, was in Muthenthalers Kopf los ist. Bis heute ist es ihm und seinem Partner Marijan Jordan nicht gelungen, jeden Bürger in Alwine kennenzulernen, in jedes Haus hineinzukommen. Sie können sich vorstellen, warum. „Es gibt dort Leute, die wohnen ganz bewusst in Alwine, die wollen in Ruhe gelassen werden.“ Die hätten sich eingerichtet in den Freiräumen, die nach dem Untergang der DDR entstanden, die fanden gut, dass die Welt da draußen sie vergessen hat. „Aber wenn ich komme, um die Häuser zu renovieren, dann will ich meine Vorstellungen auch einbringen.“

Muthenthaler weiß, dass seine Vision auch ein bisschen anders aussieht als die des Bauamtes in der Kreisstadt Herzberg. Alwine ist im Flächennutzungsplan als landwirtschaftliche Fläche ausgewiesen. Nur die Häuser, die es gibt, genießen danach Bestandsschutz. Werden sie abgerissen, sind Neubauten nicht vorgesehen. „Ich sehe hier aber kein Kohlendorf, das nicht verändert werden darf, stattdessen nur in neuem Grau erstrahlt.“ Dafür würden sie das nötige Geld nicht ausgeben. Muthenthaler will gläserne Showrooms, Werkstätten und Labore. Er will Wlan, wofür sie wenigstens einen höheren Mast errichten müssen.

Wenn alles nicht klappt: Taktischer Rückzug

Immerhin, Andreas Claus, der Bürgermeister von Uebigau-Wahrenbrück, zu dieser Flächenkommune zählt Alwine, ist dem Projekt gegenüber aufgeschlossen. „Innovation“, sagt er, „ist doch unsere einzige Chance.“ Claus ist stolz auf die Traditionen der Region, „aber wir müssen an die Jobs von morgen denken, wir müssen kreative Leute gewinnen“.

Die beiden Erfinderberater versuchen sich derweil in kleinen Schritten. So hat einer der Einwohner gerade einen neuen Kachelofen bekommen. Den habe er sich gewünscht. Natürlich hätte es preiswertere Lösungen gegeben, auch innovativere. Vorerst gehe es aber nur darum, die vorhandenen Häuser bewohnbar zu halten.

Und Muthenthaler weiß, wenn er die paar verbliebenen Dörfler nicht für sich gewinnt, dann wird das auf ihn zurückfallen. Weil der Name des Dorfs dann einen negativen Klang bekommt. Was es nicht zu einem Leuchtturm, sondern komplett untauglich als Werbeplattform für welche Erfindung auch immer machen würde. Und deshalb kriegt einen Kachelofen, wer unbedingt einen will.

Das bedeutet freilich auch, ihr Plan kann scheitern. Wie die Contact Watch. „So ist das mit jeder Erfindung“, sagt Muthenthaler. „Wenn wir an den Punkt kommen, dass es politisch oder aus welchen Gründen immer nicht möglich ist, unsere Pläne zu verwirklichen, dann ist das Investment verloren. Davon geht die Welt nicht unter.“ In Alwine vielleicht schon.

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