zum Hauptinhalt
SPD-Wahlhelfer Christopher Kurzke am 21.12.22 beim Wahlkampf in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte.

© Anna Thewalt/Tagesspiegel

Wahlkampf-Winter-Blues: Wie die Berliner Parteien auf der Straße um Stimmen ringen

Mit Glühwein und Direktansprache, bei Temperaturen um den Gefrierpunkt: Einen solchen Wahlkampf hat Berlin noch nicht erlebt. So läuft’s für die Kandidaten.

Berlin erlebt einen Wahlkampf wie nie zuvor. Eisige Temperaturen, wenig Vorlaufzeit und kaum Euphorie. Dennoch zeigen die Direktkandidaten auf den Straßen Präsenz. Wie läuft der Wahlkampf im Winter?

Grüne

Es dämmert langsam in Neukölln. Der Abgeordnete André Schulze hat sein Lastenrad an der belebten Neuköllner Kreuzung Sonnenallee / Weichselstraße geparkt. Ein Mittwoch im Januar, 16 Uhr, Temperaturen um den Gefrierpunkt. Schulze holt Flyer und Wahl-Zeitungen aus dem Stauraum seines Rads heraus und verteilt sie an zwei Grünen-Mitglieder, die ihn heute unterstützen. Sie stellen sich strategisch an je eine Ecke der Kreuzung: vor einer Bio Company, vor einem Netto und vor dem Imbiss Mr. Grill – Neukölln im Kleinformat.

Schulze hat seinen Wahlkreis Neukölln I 2021 souverän mit knapp sieben Prozentpunkten Vorsprung vor der Kandidatin der Linken gewonnen. Viel Überzeugungsarbeit muss er bei dieser Wiederholungswahl wohl nicht mehr leisten. Er muss nur dafür sorgen, dass die Leute auch wählen gehen. Das ist der Hauptzweck heute: Präsenz zeigen, informieren. Für lange Gespräche hat im Berufsverkehr ohnehin keiner Zeit.

Für Grünen-Mitglied Adrian Schmidt – schwarze Softshell-Jacke, graue Mütze, aber ohne Handschuhe – ist es erst der zweite Wahlkampf nach 2021. Er hat den Standort vor dem Netto erwischt. Ab und zu holt er sich an Schulzes Lastenrad Nachschub an Zeitungen. Nicht zu viele auf einmal, so bleibt man in Bewegung.

André Schulze, Direktkandidat der Grünen für den Wahlkreis Neukölln I.
André Schulze, Direktkandidat der Grünen für den Wahlkreis Neukölln I.

© privat

Schmidt tritt von einem Bein aufs andere und hält jeder Passantin und jedem Passanten die Parteizeitung der Grünen unter die Nase: „Hallo, von den Grünen zur Wahl?“ Für eine ausgefeiltere Ansprache ist kaum Zeit. Die meisten Menschen hetzen an Schmidt vorbei. Die häufigste Reaktion ist ein kurzes Kopfschütteln. Einige nehmen die Zeitung mit. Wenige sagen etwas wie: „Euch erst recht nicht.“ Noch weniger: „Ich wähle euch schon.“

Neben den Temperaturen und der Uhrzeit erschwert hier auf der Sonnenallee auch noch ein anderer Umstand den Wahlkampf: Viele Menschen haben keine deutsche Staatsbürgerschaft, können also gar nicht wählen. Eine Frau kommt mit ihrem Mann Hand in Hand vorbei. „Ich würde euch wählen, aber ich darf nicht“, sagt sie.

Frage an Schmidt: Man braucht schon ein dickes Fell, oder? Schmidt lacht. „Es macht schon auch Spaß“, sagte er. Vergleichbar mit einem Sommer-Wahlkampf sei es aber natürlich nicht.

FDP

Donnerstag, 7.30 Uhr, Bahnhof Greifswalder Straße. Die Grünen sind schon da. „Guten Morgen Herr Reifschneider, das ist doch gar nicht Ihr Wahlkreis“, sagte eine Frau zu dem FDP-Abgeordneten Felix Reifschneider. Der lächelt, stellt einen Karton mit Flyern ab und beginnt die FDP-Werbefahne aufzubauen. „Das macht doch nichts, ich bin Listenführer in Pankow.“

Christ Stefani macht in Pankow Wahlkampf für die FDP.
Christ Stefani macht in Pankow Wahlkampf für die FDP.

© Daniel Böldt

Die Stimme der Frau gehört Antje Kapek, ebenfalls Abgeordnete, aber eben für die Grünen. Sie war mit ihrem Team einige Minuten früher am Ausgang des S-Bahnhofs, die Grünen-Werbefahne steht bereits. Ihr Team ist fleißig am Flyer-Verteilen. Kapek nippt an einem Kaffee und freut sich über den Besuch der FDP.

Reifschneider schlägt ein Selfie vor. Die beiden Abgeordneten posieren mit ihren jeweiligen Flyern. Reifschneider postet das Bild später auf Twitter und schreibt dazu: „Guten Morgen von der Greifswalder Straße! Heute wirbt nicht nur die @fdp_berlin. Auch @Antje_Kapek ist mit ihrem Team vor Ort im demokratischen Wettbewerb.“ Dann verteilen auch die beiden Abgeordneten Flyer.

Empfohlener redaktioneller Inhalt

An dieser Stelle finden Sie einen von unseren Redakteuren ausgewählten, externen Inhalt, der den Artikel für Sie mit zusätzlichen Informationen anreichert. Sie können sich hier den externen Inhalt mit einem Klick anzeigen lassen oder wieder ausblenden.

Ich bin damit einverstanden, dass mir der externe Inhalt angezeigt wird. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr Informationen dazu erhalten Sie in den Datenschutz-Einstellungen. Diese finden Sie ganz unten auf unserer Seite im Footer, sodass Sie Ihre Einstellungen jederzeit verwalten oder widerrufen können.

Für die FDP ist an diesem Donnerstag Chris Stefani vom Ortsverband Weißensee mit dabei, der – man soll es glauben oder nicht – bei der Parteiwahl zwischen den Grünen und der FDP geschwankt hat. Umwelt sei ihm wichtig, eine seriöse Haushaltspolitik auch, sagt er. Er landete bei der FDP, ist aber weiter gegen den Ausbau der A100.

Auf Twitter sieht man, dass er die Sache durchaus ernst nimmt. Er postet jeweils Bilder von seinen Einsätzen. Stefani ist trotz der frühen Stunde gut drauf, lächelt breit und viel. Allzu viele Flyer wird er trotzdem nicht los. Gefühlt hetzen die Leute im morgendlichen Berufsverkehr noch ein Zacken schneller als abends an den Wahlkämpfern vorbei. „2021 war es schöner, das gebe ich zu“, sagt Stefani. Aber es hilft ja nichts. Bis zum 12. Februar wird er noch den ein oder anderen Wahlkampfstand mitnehmen. Nun muss er aber erstmal los, ins Büro.

CDU

Die CDU macht Wahlkampf mit Punsch und Direktansprache. „Darf man Sie auf einen Glühwein einladen?“, fragt Martin Pätzold eine Passantin. Pätzold ist Kreisvorsitzender der CDU Lichtenberg und geht derzeit fast täglich auf die Straße, um Stimmen zu sammeln. Er will bei der Wiederholungswahl am 12. Februar seinen Sitz im Abgeordnetenhaus verteidigen.

Das letzte Mal war es knapp: 2021 erhielt Pätzold 21,3 Prozent der Erststimmen in seinem Wahlkreis Lichtenberg zwei, nur 0,3 Prozentpunkte mehr als Robert Schneider (Linke). „77 Stimmen haben da den Unterschied gemacht. Damals habe ich noch geschmunzelt, als ich den Leuten gesagt habe, dass jede Stimme zählt.“

Martin Pätzold (CDU) diskutiert mit einer Anwohnerin kontrovers über die Zukunft des Weitlingkiezes in Lichtenberg.
Martin Pätzold (CDU) diskutiert mit einer Anwohnerin kontrovers über die Zukunft des Weitlingkiezes in Lichtenberg.

© Sönke Matschurek

Am Donnerstagnachmittag Anfang Februar hat die CDU Lichtenberg zu einem Nachbarschaftstreffen im Hinkelpark eingeladen. „Winterwahlkampf ist schon undankbar“, sagt Sarah Röhr, die ebenfalls für die CDU in Lichtenberg kandidiert. Stundenlanges Herumstehen ohne viel Bewegung, die Haut reiße auf, die Füße würden kalt, die ehrenamtlichen Helfer erkälteten sich. Und bei den Temperaturen haben wenig Leute Lust, lange zu sprechen.

Nur etwa zehn Menschen stehen bei Punsch im Hinkelpark zusammen. Und die meckern auch noch: Es sind mehrere Anhänger der Bürgerinitiative „Weitlingkiezblock“. Sie wollen, dass der Weitlingkiez verkehrsberuhigt wird und damit sicherer und lebenswerter.

„Von dieser Idee ist die CDU kein großer Fan“, sagt Steffen Reinicke (46), dessen Kind auf das Kant-Gymnasium in Sichtweite des Parks geht. Er sei gekommen, um seinen Standpunkt anzubringen. Pätzold im Zwiegespräch mit einer Frau: „Was gut ist: Man merkt bei Ihnen eine Leidenschaft für die Themen“, sagt er. Und: „Ich bin jemand, der den Diskurs schätzt. Man muss über persönliche Ansichten hinweg miteinander sprechen“. Nach der Diskussion mit Pätzold sagt die Frau: „Zu einem Konsens kommen wir wohl nicht. Aber ich finde es gut, dass wir nicht weggeschickt wurden.“

Es gebe nicht immer so viel inhaltlichen Gegenwind, sagt Pätzold, und manchmal auch mehr Zulauf als an diesem Donnerstag. Doch er sei überzeugt von dieser Form des Straßenwahlkampfes, von den Nachbarschaftstreffen. „Solche Formate zu schaffen, ist herausfordernd. Man muss ringen.“ Jede Stimme zählt. Wer wüsste das besser als Pätzold.

Linke

Die Wahlkampfaktion dauert gerade 45 Minuten, da öffnet der Himmel über dem U-Bahnhof Louis-Lewin-Straße in Hellersdorf seine Schleusen. Dicke Hagelkörner prasseln auf das Wellblechdach, stürmische Böen verwirbeln das kalte Nass. Steffen Ostehr und seinen Mitstreiter:innen bleibt nur die Flucht unter das Vordach. Aufgeben und einpacken ist für sie keine Option. Schließlich sind noch nicht alle roten Tüten verteilt, der Kampf um die Stimmen für diesen Tag noch nicht beendet.

Steffen Ostehr kämpft in Marzahn-Hellersdorf um das Direktmandat für die Linke.
Steffen Ostehr kämpft in Marzahn-Hellersdorf um das Direktmandat für die Linke.

© Robert Kiesel

Dass Motivation und Mobilisierung deutlich schwerer fallen als im Sommer, daraus macht Ostehr keinen Hehl. Zwar hatten sich an diesem unwirtlichen Februartag gleich sechs Genoss:innen für die Aktion gemeldet, das ist aber eher die Ausnahme. „Wir haben viele ältere Genoss:innen. Die bei dem Wetter zu motivieren, fällt schwer“, erklärt Ostehr. Zum ersten Mal überhaupt mussten Verteilaktionen an Dienstleister vergeben werden, erklärt Ostehr. Dass Wetter und Jahreszeit an der Manpower zehren, haben er und sein Team nicht exklusiv.

Dabei geht es für Ostehr, der aktuell Vorsteher der Bezirksverordnetenversammlung von Marzahn-Hellersdorf ist, ums Ganze. Nur 1,2 Prozentpunkte landete er im Herbst 2021 hinter der AfD-Kontrahentin Jeannette Auricht und verpasste damit den Einzug ins Abgeordnetenhaus nur knapp.

Damit es diesmal klappt, nimmt der 37-Jährige von den Piraten zur Linkspartei gewechselte IT-Systemelektroniker einiges auf sich. Als die Temperaturen in den Wochen vor Weihnachten deutlich unter den Gefrierpunkt fielen, verteilten Ostehr und sein Team Schokonikoläuse an die nicht weniger frierenden Passanten. „Nach 40 Minuten mussten wir abbrechen“, erinnert sich Ostehr, der sich direkt nach der Anordnung der Wahlwiederholung Mitte November Thermounterwäsche besorgt hatte.

Der größte Unterschied zum Sommerwahlkampf? „Man kommt viel schwerer ins Gespräch, viele wollen einfach nur weiter“, erklärt Ostehr. Gelingt es doch, bestimmen die Sorge vor steigenden Mieten, fehlender Wohnraum oder Probleme wegen der galoppierenden Inflation die Gespräche, erklärt er. Themen, die einen frösteln lassen – erst recht mitten im Winter.

SPD

Grauer Himmel, nasse Straße, Dämmerlicht. Viel Zeit bleibt an diesem Mittwoch vor Weihnachten nicht mehr, um die Berlinerinnen und Berliner in Mitte von der SPD zu überzeugen. „Bald wird es dunkel, deswegen machen wir nur noch eine knappe Stunde“, sagt Christopher Kurzke.

SPD-Wahlhelfer Christopher Kurzke am 21.12.22 beim Wahlkampf in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte.
SPD-Wahlhelfer Christopher Kurzke am 21.12.22 beim Wahlkampf in der Leipziger Straße in Berlin-Mitte.

© Anna Thewalt/Tagesspiegel

Der 38-Jährige – adrett gekleidet mit Steppjacke und Schiebermütze – sitzt auf einer kurzen Bierbank vor einem hölzernen Klapptisch auf der Leipziger Straße in Berlin-Mitte und klemmt Kugelschreiber an einen SPD-Flyer und eine Karte mit dem SPD-Abgeordneten Max Landero. Für Landero und die SPD ist Kurzke im Einsatz, und zwar nicht zum ersten Mal.

Schon 2021 hat er im Wahlkampf geholfen. „Wir haben hier wie die Bekloppten gestanden, jeden Tag.“ Belohnt wurden sie mit einem „irren Erfolg“, wie Kurzke sagt. Landero holte als Neuling das Direktmandat. Dass man jetzt nochmal ran müsse, habe anfangs schon auf die Stimmung gedrückt. „Aber dann haben wir in die Hände gespuckt und gesagt: Wir gehen es nochmal an“, sagt Kurzke, der sich unter den Wahlhelfern als Motivator versteht.

Als solcher tritt er auch auf. Neben dem Landero-Mobil – einem Dreirad mit dem Konterfei des Abgeordneten – stellt Kurzke nicht nur die Wahlunterlagen zusammen, sondern kommt auch mit Neugierigen ins Gespräch. Eine Frau mit schwarzer Mütze tritt an ihn heran und fragt, ob sie einen der Flaschenöffner haben kann, die auf dem Tisch liegen. „Nehmen Sie sich ruhig auch noch einen Lebkuchen mit“, sagt Kurzke. Die Frau ist SPD-Wählerin, erzählt sie, schon in zweiter Generation. „Heimspiel“ für Kurzke. Besondere Überzeugungsarbeit muss er hier nicht leisten.

Es wird langsam stockfinster, das Team um Kurzke packt ein. Ihnen graut schon vor den nächsten Tagen, wenn wieder Minusgrade angesagt sind. Aber es zähle nur eins, sagt Kurzke. „Am 12. Februar sehen wir hoffentlich, dass es sich gelohnt hat.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false