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"Bürgergutachter" in Sacramento beschäftigen sich im September 2018 mit der Mietpreisbindung.

© Healthy Democracy, Portland/OR

Regulierung am Wohnungsmarkt: Kalifornier stimmen über Mietpreisbindung ab

Nicht nur in Berlin, auch in der Bay Area wird Wohnen immer teurer. Ob der Staat eingreifen darf, entschieden jetzt die Bürger.

Nirgendwo in Amerika boomt die Wirtschaft so sehr wie in der Bay Area rund um San Francisco. Eine Folge: Die Mieten schießen durch die Decke. Gut verdienende Profiteure der Digitalisierung – wie etwa Programmierer mit Anfangsgehältern von weit über 100 000 Dollar – verdrängen dabei weniger solvente Mieter. In San Francisco hat die Zahl der working homeless sichtbar zugenommen, also derjenigen Menschen, die sich trotz Arbeit keine Wohnung leisten können oder wollen. Nach letzten Umfragen gehen in der Stadt am Pazifik rund zehn bis 13 Prozent der Obdachlosen zumindest einer Teilzeitbeschäftigung nach.

Bereits seit 1987 organisiert in San Francisco die „Coalition of Homelessness“ ihre Interessen, durchaus mit Erfolg. Inzwischen gibt es etwa in San Francisco bei knapp 8000 registrierten Obdachlosen – tatsächlich sind es deutlich mehr – über 7000 vorgehaltene Schlafplätze.

Ein viel größerer Teil der Geringverdiener aber wechselt nicht auf die Straße, sondern wird in entferntere Wohngebiete verdrängt und muss immer längeren Pendelzeiten für den Weg zur Arbeit auf sich nehmen. Bis vor Kurzem noch erschwingliche Wohngebiete in Oakland, in denen viele Afro-Amerikaner und Hispanics lebten, haben sich merklich verändert. Gegen diese Gentrifizierung gibt es lokalen Widerstand, der eine Begrenzung des Anstiegs der Mietpreise fordert. Einige Unternehmen, wie etwa Facebook, gehen einen anderen Weg und bauen inzwischen standortnahe Sozialwohnungen für ihre weniger gut verdienenden Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter.

Mehrheit gegen Regulierung

Am 6. November, zeitgleich mit den Midterm-Wahlen, wurden in Kalifornien elf Volksabstimmungen durchgeführt – eine davon zur Mietpreisbegrenzung. Diese Abstimmungen sind in dem Bundesstaat ein scharfes Schwert der Bürgerinnen und Bürger, um in die Kommunal- und Landespolitik einzugreifen. Bei der letzten Abstimmungsrunde in Kalifornien im November 2016 etwa haben die Wähler den Waffenbesitz und die Verwendung von Plastiktüten reglementiert und mit 57 zu 43 Prozent den Vertrieb und Konsum von Cannabis legalisiert.

Im November 2018 wurde der „Proposition 10“ zur Mietpreisbegrenzung die größte öffentliche Aufmerksamkeit zuteil: Es ging darum, ein kalifornisches Gesetz aus dem Jahr 1995 abzuschaffen, welches den Kommunen große Restriktionen für Mietpreisbegrenzungen auferlegt hatte. Der damalige republikanische Gouverneur Peter Barton Wilson war ein Gegner staatlicher Mietpreisregulierungen, und so hatte das kalifornische Parlament den Kommunen das Recht zur Begrenzung des Mietenanstiegs für Neubauten weitgehend genommen.

Dies sollte nun rückgängig gemacht werden. Doch die kalifornischen Wähler lehnten den Vorschlag mit 59,5 zu 41,5 Prozent ab. Allerdings gaben sie in drei weiteren Volksabstimmungen vier Milliarden Dollar für den sozialen Wohnungsbau sowie weiteres Steuergeld für konkrete Hilfen für Obdachlose frei – und lehnten zudem einen Vorschlag ab, der Menschen über 55 Jahre das Recht nehmen wollte, ihren niedrigeren Steuersatz bei Umzügen in andere Kommunen „mitzunehmen“.

Vertrauen in den Markt

Dennoch bleibt die Frage, warum die kalifornischen Wahlbürger den Kommunen das Recht zur Stärkung der Mietpreisbegrenzung verweigerten. Dafür gibt es mehrere Gründe. Traditionell sind die Amerikaner gegenüber staatlichen Zwangsmaßnahmen skeptischer als etwa die Deutschen. Sie vertrauen stärker auf den Markt, der bei hohen Mieten gleichsam automatisch mehr Wohnungsbau initiieren und damit das Wohnungsproblem lindern würde – so zumindest die Annahme.

Außerdem sind knapp 50 Prozent der Kalifornier selbst Hauseigentümer. Meist ist es das klassische Einfamilienhaus, das aber oft eine kleine Einliegerwohnung umfasst, das mother-in-law apartment (Schwiegermutterwohnung). Diese Eigentümer sahen sich bei der Abstimmung wohl eher auf Seiten der Vermieter. Steigende Mieten und – damit zusammenhängend – steigende Hauspreise begreifen sie eher als Vorteil; sichern diese ihnen doch ihre Altersversorgung. In den USA werden Häuser nach wie vor schneller ge- und verkauft, auch mehrmals im Leben. Eine Grunderwerbsteuer wie in Deutschland gibt es in Kalifornien nicht.

Ein weiterer Grund war die ungleiche Verteilung der Mittel für den Wahlkampf. Die Unterstützer der Volksabstimmung konnten nur rund 25 Millionen Dollar Spenden aufbringen, während ihre Gegner – gesponsort von Haus- und Grundbesitzervereinigungen – rund 75 Millionen gesammelt hatten. Diese „Waffenungleichheit“ bei Wahlen und Abstimmungen wird in Amerika zunehmend kritisiert.

Entscheidend für das Abstimmungsergebnis war aber vermutlich, dass die meisten Stimmbürger vom Wahlzettel schlicht überfordert waren. Neben den elf Volksabstimmungen sollten sie das Repräsentantenhaus, einen Teil des US-Senats, das kalifornische Repräsentantenhaus sowie den Senat, den Gouverneur des Staates und Mitglieder des obersten Gerichts wählen und zahlreiche weitere Ämter auf Staatseben und in der Kommune besetzen. Viele füllten den Wahlzettel daher nicht vollständig aus oder orientierten sich an Ausfüllhilfen der beiden großen Parteien, den sogenannten cheat sheets. Bei derart vielen Entscheidungen gab es schlicht keine angemessene gesellschaftliche Auseinandersetzung mit dem politischen Problem.

„Bürgergutachter“ sollen's richten

Doch Amerika wäre nicht Amerika, wenn es nicht Gruppen gäbe, die dieses Defizit der parlamentarischen Demokratie beheben wollten. Für die Volksabstimmung zur Mietpreisbegrenzung trat in Kalifornien die Nichtregierungsorganisation „Healthy Democracy“ gemeinsam mit zwei weiteren Institutionen mit einer demokratische Innovation an: der Citizen Initiative Review (CIR). Sie war 2010 in Oregon eingeführt worden und ist dort inzwischen gesetzlich verankert. Nun breitet sie sich langsam auf andere Bundesstaaten aus, im November 2018 erstmals auf Kalifornien.

Bei der CIR werden rund 25 zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger für vier Tage eingeladen und dafür bezahlt, an einer Jury teilzunehmen, die sich alle Argumente für und gegen einen Volksabstimmungsvorschlag von Experten und Lobbyisten erklären lässt und anschließend in Kleingruppen diskutiert. Danach verfasst die Gruppe eine Kurzinformation mit den wichtigsten Pros und Contras, die allen Wählern zugeleitet wird.

Auf diese Weise beleuchten die „Bürgergutachter“ stellvertretend für alle Bürger das Problem von allen Seiten. Eine beeindruckende Kombination von partizipativer und direkter Demokratie, die in Oregon nachweislich schon Volksabstimmungen beeinflusst hat. Während aber dort die von den Bürgergutachtern abgewogenen Informationen tatsächlich jedem Wahlbürger zugesandt wurden, ist das in Kalifornien unterblieben. Hier wurden die neutralen Fact- sheets lediglich ins Internet gestellt und kaum zur Kenntnis genommen.

Auch in Deutschland diskutieren wir derzeit eine bessere Kombination von parlamentarischer, direkter und partizipativer Demokratie. Volksabstimmungen und Bürgerbeteiligungen sollen nicht mehr nur Ohrfeigen für die jeweils Regierenden sein, sondern die parlamentarische Demokratie ergänzen und stärken.

Der Autor ist Professor für Arbeitslehre, Technik und Partizipation an der Technischen Universität Berlin und leitet das Nexus Institut für Kooperationsmanagement in Berlin, das Bürgerbeteiligungsprozesse begleitet.

Zum Weiterlesen: healthydemocracy.org/cir (auf Deutsch) und publicpolicy.pepperdine.edu/events/2018/cir.htm (auf Englisch).

Hans-Liudger Dienel

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