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Meilenstein. Der amerikanische Präsident Bill Clinton (Mitte) und die Genforscher Craig Venter (links) und Francis Collins (rechts) bei der Vorstellung des entzifferten menschlichen Genoms im Weißen Haus am 26. Juni 2000.

© AFP

25 Jahre Genom-Entzifferung: Happy Birthday, ATG CTA AGT

Der Blick in das menschliche Erbgut eröffnet der Medizin völlig neue Möglichkeiten. Aber es ist eine Revolution mit Hindernissen..

„Was denn, das ist schon 25 Jahre her?“ Marcella Rietschel ist überrascht. Sekt hat die Psychiaterin, die am Mannheimer Zentralinstitut für Seelische Gesundheit nach den genetischen Ursachen psychischer Erkrankungen sucht, jedenfalls nicht kaltgestellt, um den Start des größten (weil mit mehr als drei Milliarden Dollar teuersten) Forschungsprojektes der Biologie im September 1990 zu feiern. Und auch in anderen Labors hat man um den Geburtstag des Humangenomprojekts kein Aufhebens gemacht. Dabei versprachen sich Genomforscher so viel von dem Wissen um den Erbgutcode des Menschen. Eine „Revolution in der Medizin“. Das „Ende des Unwissens“. Und als die Genomforscher im Jahr 2000 das erste Genom eines Menschen ähnlich medienwirksam wie die erste Mondlandung präsentierten, schob sich sogar US-Präsident Bill Clinton ins Bild.

Seitdem ist die Euphorie aber der nüchternen Erkenntnis gewichen: „Vieles ist viel komplizierter, als wir es uns anfangs gedacht haben", sagt Rietschel. Den Vorwurf, der zehn Jahre später in den Medien laut wurde, die teuren Gendaten hätten nichts zu neuen Therapien oder konkreten Anwendungen geführt, weisen Forscher aus den unterschiedlichsten Disziplinen jedoch zurück. Ob in der Herzkreislauf- oder der Krebsforschung, in der Ernährungswissenschaft oder bei der Suche nach den Ursachen psychischer Erkrankungen resultieren aus den Informationen über das menschliche Erbgut sowohl wichtiges Wissen als auch neue Therapie- oder Diagnosemöglichkeiten.

Genvarianten lassen das Infarktrisiko in die Höhe schießen

Herzkreislaufforscher beispielsweise haben die Gendaten auf die Fährte von Mutationen in den Genen LDLR oder PCSK9 gebracht, die gefährlich hohe Konzentrationen von Cholesterin (Typ LDL) im Blut verursachen und damit das Risiko von Herzinfarkten oder Schlaganfällen drastisch erhöhen, sagt Jeannette Erdmann vom Deutschen Zentrum für Herz-Kreislauf-Forschung. „Durch genetische Untersuchungen kann man bereits sehr früh Patienten identifizieren und frühzeitig mit der Therapie beginnen“, dem Senken des LDL-Cholesterins. Und basierend auf den Genomstudien sei inzwischen auch ein neuer Therapieansatz entwickelt worden: Antikörper, die sich gegen PCSK9 richten, werden von Pharmafirmen getestet.

Genomstudien helfen also vor allem beim ersten Schritt auf dem langen Weg zu einer Therapie, beim Verstehen des krankheitsauslösenden Mechanismus. Als Forscher beispielsweise kürzlich das Erbgut von 185 000 Patienten nach Genvarianten durchsuchten, die mit Erkrankungen der Herzkranzgefäße einhergehen, fanden sie nur zu rund 20 Prozent Gene, die bekannte Risikofaktoren wie Bluthochdruck, Cholesterin oder Triglyceride beeinflussen. „Im Umkehrschluss bedeutet das: 80 Prozent der entdeckten Gene deuten auf krankheitsauslösende Mechanismen hin, an die bisher niemand gedacht hat“, sagt Erdmann. Dass sich aus dem puren Wissen um solche Genvarianten schnell neue Therapien entwickeln lassen, das „war wohl zu optimistisch gedacht“, sagt Erdmann. Nicht zu vergessen sei jedoch, dass Erkenntnisse aus der Genomforschung bereits viele unnötige, weil sinnlose Medikamentenentwicklungen beendet haben.

Gentests? Die Krankenkassen zögern

Ein Grund dafür, dass Erbgutinformationen erst wenige Therapien angestoßen haben, ist technischer Art. Erst jetzt sind Erbgutanalysen, die vor zehn Jahren noch zehntausende Dollar pro Patient kosteten, so schnell und günstig geworden, dass zigtausende Patienten in die Studien einbezogen werden können. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass jene Genvarianten gefunden werden, die in der Bevölkerung selten sind, aber erheblich zum Entstehen einer Krankheit beitragen.

Auch für die Anwendung der Gendaten in der Medizin spielen Geschwindigkeit und Preis der Genentzifferung eine wichtige Rolle. Denn bislang ist selbst die Untersuchung einzelner Gene noch so teuer, das Krankenkassen zögern, sie bei hunderttausenden von Patienten einzusetzen. Zumal der Preis der Sequenzierung gar nicht allein das entscheidende ist. Ob 1000 oder sogar nur zehn Dollar, wie es kürzlich der Chef der niederländischen Biotech-Firma Qiagen für die nähere Zukunft in Aussicht stellte, „die eigentlichen Kosten entstehen bei der Auswertung und Speicherung der Daten, der Befundmitteilung und Beratung von Patienten“, sagt Erdmann.

Was die Entstehung von ernährungsbedingten Erkrankungen wie Diabetes betrifft, haben Genomstudien immerhin rund 100 Erbanlagen entdeckt, die an der Entstehung der Zuckerkrankheit beteiligt sind, sagt Annette Schürmann vom Deutschen Institut für Ernährungswissenschaft (DIfE) in Potsdam. „An den Grund der genetischen Ursachen der Zuckerkrankheit sind wir deshalb aber immer noch nicht vorgedrungen.“ Nicht nur die Gensequenzen bestimmen, wie Zellen und Organismen funktionieren, sagt Schürmann. „Es tragen auch epigenetische Veränderungen dazu bei, also Umweltfaktoren, die das Ein- und Ausschalten von Genen modifizieren.“ Für die Therapie der Diabetes oder die Warnung vor einer sich anbahnenden Zuckerkrankheit taugen Geninformationen deshalb noch nicht.

Krebsmedikamente passend zum Erbgut

In der Krebsforschung haben die Erbgutdaten wohl am ehesten zu Verbesserungen der Therapie geführt. „Die Sequenzierung des menschlichen Erbguts war die Grundlage für viele diagnostische Tests, die eine bessere Klassifizierung von Tumoren erlauben“, sagt Michael Boutros, Chef des Deutschen Krebsforschungszentrums in Heidelberg. Darüber hinaus seien zielgerichtete Therapien entwickelt worden. „Etwa die ,BRAF-Blocker’, die Patienten mit schwarzem Hautkrebs helfen können.“

Gene, Krankheiten, Medikamente: Das große Puzzle

Bei einigen Patienten mit Lungenkrebs finden sich in den Krebszellen hingegen Fehler im Gen EGFR. „Diese Patienten können mit Medikamenten, die gezielt in das von dieser Mutation verursachte Geschehen eingreifen, behandelt werden“, sagt Lukas Heukamp, medizinischer Leiter der Biotechnikfirma NEO New Oncology AG. Das sei oftmals effektiver und nebenwirkungsärmer als eine Chemotherapie, die sich gegen alle Zellen richtet, die sich teilen. „Herauszufinden, welche Patienten für diese Behandlung in Frage kommen, wäre ohne Erbgutsequenzierung jedoch unmöglich.“

In der Forschung werden durch den Vergleich gesunden menschlichen Erbguts mit dem Erbgut von Krebszellen krebstypische Genmutationen und gleichzeitig neue Angriffspunkte für Therapien herausgefunden. „Es sind aber viele Gen-Mutationen, die die Tumorentstehung und -progression beeinflussen“, sagt Boutros. Deshalb seien Therapien gegen einzelne Ziele meist nicht lange wirksam. „Wir verstehen im Moment noch zu wenig, wie Gene sich gegenseitig beeinflussen und Resistenzen gegen Medikamente fördern“, sagt Boutros. Das liege auch daran, dass sich das Erbgut von Krebszellen im Verlauf der Krankheit verändert und jeder Tumor sein ganz eigenes Muster an Genmutationen hat.

Genanalysen helfen, psychische Leiden zu verstehen

Inwieweit Deutschland, das anfangs mit dem Nationalen Genomforschungsnetzwerk einen wichtigen Beitrag zur Erbgutentzifferung geleistet hat, künftig noch an der Umsetzung des Erbgutwissens in Therapien beteiligt sein wird, ist allerdings offen. Denn ein eigenes Genomforschungsprojekt gibt es hierzulande nicht mehr. „Es besteht die Gefahr, dass Deutschland zurückfällt“, sagt Jeannette Erdmann, die auch am Institut für Integrative und Experimentelle Genomik der Universität Lübeck arbeitet.

So gibt es im Gesundheitsforschungsprojekt der Nationalen Kohorte kein Geld für Erbgutsequenzierungen. „Deshalb müssen deutsche Patienten im Rahmen von Kooperationen mit amerikanischen Forschern sequenziert werden“, klagt Erdmann. 215 Millionen Dollar geben die USA für ein Programm für „Präzisionsmedizin“ aus, gemessen daran sollte Deutschland mindestens 50 Millionen Euro aufbringen, fordert Erdmann.

Erbgutdaten werden bislang zum Erkennen und Behandeln psychischer Erkrankungen wenig genutzt. Das habe auch daran gelegen, dass es in der Psychologie größere Widerstände gegen die Genomik gegeben habe, sagt die Psychiaterin Marcella Rietschel. „Psychische Erkrankungen sind so intensiv mit dem eigenen Ich verknüpft, dass sich viele gegen die Vorstellung gesträubt haben, dass auch solche Erkrankungen genetisch mitbestimmt werden.“

Die Schizophrenie ist mit vielen Erbanlagen verknüpft

Aber inzwischen hätten eine Reihe von Genomstudien zeigen können, dass genetische Faktoren eine Rolle bei psychischen Erkrankungen spielen. Rietschels Arbeitsgruppe entdeckte gemeinsam mit anderen Forschern 108 Genvarianten, die mit der Wahnkrankheit Schizophrenie einhergehen. „Daher wissen wir jetzt, welche molekularen Mechanismen bei der Krankheitsentstehung betroffen sind und haben Anhaltspunkte für die Medikamentenentwicklung“, sagt Rietschel. Denn die Erbgutstudien haben sowohl Genvarianten in molekularen Systemen gefunden, die bereits im Verdacht standen, bei Schizophrenie eine Rolle zu spielen, wie Systeme um die Botenstoffe Dopamin, Glutamin und Serotonin. „Aber wir haben ebenso neue Gene gefunden, von denen wir noch nicht wussten, dass sie bei Schizophrenie wichtig sind.“

Auch wenn nach 25 Jahren die Genomforschung noch nicht dort steht, wo man es sich anfangs erhofft hatte. „Wir haben keine Alternative“, sagt Rietschel. „Selbst wenn wir noch nicht alle Gene gefunden und ihre Rolle verstanden haben, kann das ja kein Grund sein aufzuhören. Denn mit Sicherheit sind wir heute näher dran denn je."

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