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Vielfältig. Kindern mit seltenen Leiden kann der Blick ins Erbgut helfen.

© picture alliance / dpa

Individualisierte Medizin: Erst das Erbgut entziffern, dann das Leiden kurieren

Eine auf den Einzelnen zugeschnittene Medizin kann Leben retten. Die Akademien sehen darin die Zukunft.

Das Mädchen wirkte relativ gesund. Ihr Gesicht war ein bisschen anders geformt, ihre Körperspannung war zu schwach. Außerdem entwickelte sich das Baby verzögert. Damit hätte sie leben können. Doch sie litt oft unter Atemnot, mit sechs Monaten kam sie auf eine Intensivstation. Ihre Ärzte machten einen Standardtest nach dem anderen. Erfolglos.

Das Team um Stephen Kingsmore von der Klinik Children’s Mercy in Kansas City entzifferte und analysierte schließlich das gesamte Erbgut des Kindes und seiner Eltern. Ihr Ergebnis: Ein einzelner Schreibfehler im Erbgut des Mädchens hatte seinen Stoffwechsel durcheinandergebracht. Dem Mädchen rettete das Wissen um die Ursache der Krankheit vermutlich das Leben, die Ärzte geben ihr seitdem Nahrungsergänzungsmittel. Sie ist jetzt 15 Monate alt. Zwar hat sie immer noch Probleme. Aber ihr Stoffwechsel hat sich normalisiert, die Atemnot ist verschwunden. Sie ist wacher und kann ihre Kopfhaltung besser kontrollieren.

Kingsmore und seine Kollegen haben bei 119 Kind-Eltern-Trios entweder das Exom – also die Erbgutabschnitte, die in Eiweiße übersetzt werden – und in einigen Ausnahmen das gesamte Erbgut sequenziert. Danach analysierten sie mithilfe einer speziellen Software, welche der unzähligen Veränderungen aller Wahrscheinlichkeit nach zu den neurologischen Entwicklungsstörungen der Kinder geführt haben. Bei etwa der Hälfte konnten sie eine Diagnose stellen, schreiben die Forscher im Fachblatt „Science Translational Medicine“. Wiederum bei der Hälfte änderte sich dadurch die Behandlung. Die meisten Familien hatten bis zu diesem Zeitpunkt allein für Tests fast 20 000 Dollar ausgegeben. Wäre zuerst das Erbgut analysiert worden, hätten sie im Durchschnitt 7640 Dollar für die Diagnostik und viel Zeit gespart. „Die Sequenzierung ist effektiv und kann Einfluss auf die Behandlung haben“, sagte Sarah Soden, die Erstautorin der Studie.

Plattformen für Universitäten und Kliniken zugänglich machen

Die Grundlagenforschung zur personalisierten Medizin sei auch in Deutschland sehr gut, sagte Bärbel Friedrich, Vizepräsidentin der Nationalen Akademie der Wissenschaften. Sie stellte am Donnerstag in Berlin gemeinsam mit Kollegen die Stellungsnahme „Individualisierte Medizin“ von Leopoldina, Acatech und Akademienunion vor. Technologien wie die Analyse des Erbguts, der Eiweiße oder der Mikroorganismen, die mit uns leben, ermöglichten eine neue Einteilung von Krankheiten nach ihren molekularen Ursachen statt nach Entstehungsort und Symptomen. Das betreffe nicht nur Erbkrankheiten bei Kindern und die Krebsmedizin, sondern solle auch das Verständnis der Volkskrankheiten verbessern.

Universitäten und Kliniken hätten jedoch keinen ausreichenden Zugang zu den technischen Plattformen für die Hochdurchsatzverfahren. „Die Erbgutsequenzierung ist mittlerweile so routiniert, dass es Firmen übernehmen können“, sagte Friedrich, die die Arbeitsgruppe von 20 Wissenschaftlern leitete. „Für alle anderen Technologien könnte man Zentren ausbauen, die allen zugänglich sind.“ Das erfordere zunächst hohe Investitionen, spare aber später Geld. Das sei Konsens in der Arbeitsgruppe.

„Dass Ärzte und Medizinstudenten so viel auswendig lernen müssen, hat damit zu tun, dass die Medizin wenig über Krankheitsursachen weiß“, sagte Thomas Lengauer, Direktor am Max-Planck-Institut für Informatik in Saarbrücken. Das sei nicht zukunftsfähig. Die Technik allein reiche aber nicht für einen grundlegenden Wandel. Biobanken sollten einheitlichen Regeln folgen, Patientendaten standardisiert in einer elektronischen Krankenakte zusammengeführt, klinische Studien entsprechend angepasst werden. Um nach den Ursachen von Volksleiden wie Diabetes und Rheuma zu suchen, sollte man die niedergelassenen Ärzte einbinden, sagte der Humangenetiker Peter Propping. Gibt der Patient die Erlaubnis, seine anonymisierten Daten zu nutzen, dürfe der Forscher nicht wie ein Hegemon auf den Daten sitzen, sondern sollte sie zum Wohle aller teilen. „Die Patienten wollen das! Förderinstitutionen können dazu einen großen Beitrag leisten“, sagte Lengauer.

Damit die Erkenntnisse in der Klinik umgesetzt werden, sollten Ärzte ein Grundverständnis der Bioinformatik haben, die für sie die Patientendaten durchforstet. „Sich von einem Computer beraten zu lassen, ist für Ärzte gewöhnungsbedürftig“, sagte er.

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