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Der Zug einer Demonstration gegen queerfeindliche Gewalt zieht anlässlich eines Angriffs auf zwei Frauen am 6. Juli 2023 durch Berlin-Kreuzberg.

© dpa/Christoph Soeder

Neue queere Theorien: Wissen, das die Alltagskämpfe bereichert

Von 1990 bis heute: Der Band „Queer Studies. Schlüsseltexte“ macht bis dato unübersetzte Texte der anglophonen Queer Studies einem deutschen Publikum zugänglich.

Die Gefahr, als queerer Mensch auf offener Straße attackiert zu werden, nimmt zu. Deutschlandweit steigt die Zahl der registrierten Fälle von queerfeindlicher Hasskriminalität. In Berlin hat die Zahl der Straftaten gegen die LGBTIQ*-Community einen Höchststand erreicht. Einige hundert Menschen versammelten sich kürzlich in Kreuzberg, um auf die Attacken aufmerksam zu machen und sich zu solidarisieren.

Die Übergriffe und Demonstrationen auf den Straßen Berlins haben auf den ersten Blick wenig mit einem 576 Seiten starken Band voller anspruchsvoller theoretischer Texte zu tun. Doch die Queer Studies, die auch in der Berliner Hochschullandschaft mittlerweile fest verankert sind, waren nie ein Elfenbeinturm-Projekt. Sie waren schon immer aufs Engste mit der Erfahrung von Gewalt und Marginalisierung und daraus resultierenden sozialen Bewegungen verbunden.

Mit „Queer Studies. Schlüsseltexte“ haben der Soziologe Mike Laufenberg und der Philosoph Ben Trott jetzt einen Band herausgegeben, der bis dato unübersetzte Texte der anglophonen Queer Studies von 1990 bis 2015 auch einem deutschen Publikum zugänglich macht.

1990 gilt als Gründungsjahr der Queer Studies

Ein anspruchsvolles Vorhaben, denn die Disziplin ist schwer zu greifen: Der Theoriestrang lässt sich weder auf eine bestimmte Methodologie oder Fachrichtung herunterbrechen, noch auf einen einzigen Gegenstand. Laufenberg und Trott benennen in ihrer ausführlichen Einleitung zu den Essays aber zwei Schlüsselprobleme der Forschung: Erstens die Kritik an Normativität, etwa, dass Heterosexualität als soziale Norm postuliert wird, und zweitens ihren Anspruch auf Multidimensionalität, also Fragen von Sexualität und Geschlecht in Zusammenhang mit anderen Achsen sozialer Differenz wie Race oder Klasse zu analysieren.

Als Geburtsstunde der Queer Studies gilt das Jahr 1990, weil damals Eve Kosofsky Sedgwicks „Epistemology of the Closet“ erschienen ist. Eine gekürzte Fassung der Einleitung eröffnet den Band von Laufenberg und Trott.

Die US-amerikanische Theoretikerin ist eine der wichtigsten Stimmen der Queer Studies. Trotzdem steht eine Übersetzung ihres Werks ins Deutsche – über 30 Jahre später – noch aus. Hierzulande ungleich berühmter ist Judith Butler, deren Buch „Das Unbehagen der Geschlechter“ ebenfalls 1990 erschien. Obwohl weder bei Sedgwick noch bei Butler das Wort „queer“ vorkommt, gelten die beiden Werke als Gründungstexte der Queer Theory.

Anfang desselben Jahres organisierte die Professorin Teresa de Lauretis an der University of California in Santa Cruz eine Konferenz, die sie mit „Queer Theory“ betitelte – eine Wortschöpfung, die damals für Aufsehen sorgte. Denn „queer“ war zu der Zeit noch ein homo- und transfeindliches Schimpfwort und erst langsam dabei, zu einer Selbstbezeichnung aller als sexuell „anders“ gelabelten Menschen in den USA zu werden. Zwei Monate später gründete sich in New York die Gruppe „Queer Nation“ als Reaktion auf homofeindliche Gewalt. 

Auch ältere Essays lesen sich noch aktuell

Mike Laufenberg und Ben Trott betonen, dass sich keine gradlinige Geschichte der Queer Studies zeichnen lässt. Sie sind Ergebnis einer Kreuzung von akademischen und politischen Bewegungen, haben ihren Ursprung in den Gay and Lesbian Studies oder Women’s Studies der Universitäten genauso wie in dem queeren Aktivismus der Aids-Epidemie in den 80ern.

So vielfältig wie die Faktoren, die zur Entstehung der Queer Studies geführt haben, sind die Texte in dem Band: Es geht um Rassismus und Klassenfragen, Behinderung und Subkultur. Auch die älteren Essays haben an Aktualität nichts eingebüßt. Judith Butler etwa verhandelt in „Lediglich kulturell“ von 1997 mit einer Frage, die noch immer Debatten über Identitätspolitik bestimmt: Beschäftigen sich neue soziale Bewegungen nur mit kulturellen Fragen wie Anerkennung und vernachlässigen dabei ökonomische Faktoren der Unterdrückung?

Ein Mehrwert des Bands ist auch, dass er über die USA hinausblickt, die lange Zentrum der Queer Studies waren. Von der Genderforscherin Gayatri Gopinath lernt man über queere Diasporas in südasiatischen Kulturen, der Literaturwissenschaftler Petrus Liu erklärt, was queerer Marxismus in China bedeutet.

„Queer Studies. Schlüsseltexte“ bietet einen spannenden Einblick in ein extrem vielgestaltiges Forschungsfeld – und eine theoretische Untermalung der gesellschaftlichen Kämpfe, die auch heute noch geführt werden müssen.

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