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Kein Fußball mehr um halb zehn: Am Mittwochabend kümmern sich Münchens Teamärzte um Jerome Boateng. Er ist, schon wieder, ernsthaft am Oberschenkel verletzt.

© imago/ActionPictures

Sportmedizin: Die Hebel des Grauens

Jerome Boateng ist verletzt. Schon wieder. Spieler wie er sind besonders anfällig. Sportwissenschaftler wissen, warum - und wie man vorbeugen kann.

Jerome Boateng ist Rekordhalter in der deutschen Fußballnationalmannschaft. Sein 1:0 bei der letzten Europameisterschaft gegen die Slowakei in der achten Minute war bislang das schnellste Tor der deutschen EM-Geschichte. Genauso in Erinnerung wie der abgefälschte Distanzschuss dürfte vielen die Freudenbekundung des Schützen sein. Er sprang urgewaltig in die Luft, streckte sich, dann landeten die gut 90 Kilo wieder auf dem Rasen von Lille. Und wie diese Masse alle Körperteile stauchte, tat schon beim Zusehen weh. Verletzt hat er sich beim Torjubel nicht. Im Halbfinale gegen Frankreich allerdings passierte es dann, ohne direkte Einwirkung eines Gegners. Ähnlich sah es am Mittwochabend im Champions-League-Spiel des FC Bayern gegen Real Madrid aus.

Wenn die Leisten zu viel leisten müssen

Die Diagnose kam am Donnerstag: strukturelle Adduktorenverletzung. Das empathisch schmerzverzerrte Gesicht von Teamarzt Müller-Wohlfarth hatte schon Mittwochabend auf etwas Ernsteres hingedeutet.

Spieler wie Jerome Boateng – groß, schwer und nicht mehr ganz jung – sind für Muskelverletzungen besonders anfällig. Sportmediziner und Trainingswissenschaftler haben die Gruppe der großen und schweren Fußballer und anderen Ballsportler längst als Problempopulation ausgemacht. Für die National Basketball League der USA etwa gibt es Statistiken, die klar zeigen, dass Spieler über 2,10 Meter fast doppelt so häufig ausfallen wie alle anderen.

Boateng ist 10 Zentimeter größer als der Durchschnitt der Spieler der Bundesliga, und mehr als 11 Kilo schwerer. Er ist 29. Dass er mit fast 40 noch als Profi spielen könnte wie einst der 1,74 Meter große Lothar Matthäus, ist physiologisch fast ausgeschlossen. Große, muskulöse Spieler hätten im Fußball, der heute viel athletischer sei als noch vor 20 Jahren, „riesige Vorteile, zum Beispiel bleibt im Strafraum von drei Spielern nur der Kompakteste an dem einen umkämpften Platz“, sagt der Sportmediziner Jürgen Steinacker von der Uniklinik Ulm. „Aber sie sind anfälliger, und um dem entgegenzuwirken, müssen sie eigentlich sehr speziell trainieren und sich verhalten“.

Mikroverletzungen mit Folgen

Steinacker sagt, aufgrund des Griffs von Boatengs Hand in eine bestimme Gegend sei er sofort sicher gewesen, dass Adduktoren-Muskeln – verantwortlich für den Ausgleich seitlicher Bewegungen – betroffen seien. Diese Verletzungen treten häufig bei Fußballern auf, besonders wiederum bei den Großen und Schweren. „Es ist eine nicht so große Muskelgruppe, die bei Fußballern latent überlastet und verkürzt ist“, sagt der Mediziner. Aufgrund der längeren Gliedmaßen wirken bei großen Spielern in diesem Bereich besonders große Hebel, und ein hohes Körpergewicht sorgt für deutlich mehr Krafteinwirkung. Die „latente Überlastung“ bringt über die Jahre weitere Probleme: Verletzungen häufen sich. Oft sind es nur so genannte Mikroverletzungen von unsichtbar bis blauer Fleck. Ihretwegen muss kein Spieler auf die Tribüne. Doch sie hinterlassen ihre Spuren und machen immer anfälliger.

Gegensteuern ist möglich. Falsch etwa ist es, im Fitnessstudio pure Masse anzutrainieren, da so entstehende Muskelfasern nicht schneller, sondern vor allem schwerer machen. Spezialtraining mit so genannten Störübungen, bei denen mehr Muskelgruppen als bei reinen Sprints oder Hochsprüngen beansprucht werden, gehört ebenfalls dazu. „Wichtig ist aber vor allem das Regenerationsverhalten, da ist große Professionalität gefragt.“

Und generell gilt eines als sicher: Verletzungen häufen sich, wenn tägliche Trainingszeiten sich von Wettkampfzeiten unterscheiden – aufgrund von Müdigkeit und geringerer Konzentration. Boatengs Missgeschick geschah um 21.20 Uhr, nicht gerade zur Haupttrainingszeit von Fußballern also.

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