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Bernd Wulff (links) und Klaus Baumgart auf dem Bahnhof Friedrichstraße.

© Thilo Rückeis

20 Jahre Einheit: Auf dem gleichen Gleis

S-Bahn, das war die Domäne der DDR. Nach der Wende eroberten die Ost-Kollegen auf der durchgehenden Trasse die Schiene. Bernd Wulff aus Treptow und Klaus Baumgart aus Wedding wurden Kollegen – verkuppelt durch die BVG.

In jener Nacht, in der Bernd Wulff Teil der Weltgeschichte wurde, war er nur genervt. Am 2. Juli 1990, 3.38 Uhr, wollte er mit seinem leeren S-Bahn-Zug Richtung Westen rollen, die Waggons sollten am Tag darauf zur feierlichen Wiedereröffnung der durchgehenden Stadtbahntrasse bereitstehen. Doch am Ostbahnhof forderte ihn der Fahrdienstleiter zum Halten auf. Ein Reporter der „B.Z.“ und ein Kameramann polterten in Wulffs friedlichen Führerstand, in der offenen Tür drängten sich die Pufferküsser, und von vorn gewitterten die Blitzlichter. Das Funkgerät, das ihm die West-BVG für die Premierenfahrt mitgegeben hatte, funktionierte nicht. „Und der Reporter quatschte dauernd dazwischen und fragte, ob ich mich jetzt euphorisch fühle. Aber ich war stinksauer, weil man mir meine gediegene Einfahrt in den Westteil verhagelt hatte.“

Neben Wulff am Cafétisch im Bahnhof Friedrichstraße sitzt lachend sein Westkollege Klaus Baumgart. Er, der Wessi, bekam in jenen Tagen Angst um seinen Job. Weil Wulff und dessen Ost-Kollegen die West-Strecken eroberten, von Oranienburg und Erkner her. Der U-Bahn-Fahrer Baumgart war 1984 auf die S-Bahn umgestiegen, als die BVG deren drei mickrige Linien in den Westbezirken übernahm. Er fuhr mal mit zwei und mal mit vier Wagen und hielt üblicherweise „wo der Fahrgast stand“. Bei mehreren hielt er in der Mitte, und wenn gar keiner da war, auf Höhe der Aufsicht für einen Plausch.

Wulff beginnt zu schwärmen, wie er die Hauptstadt der DDR in Bewegung hielt: „Es war schon immer ein tolles Gefühl, ein paar hundert Menschen hinter mir zu haben, die sich auf mich verlassen.“ Er hätte „keine Lust gehabt, immer nur warme Luft spazieren zu fahren.“ Baumgart nickt. „An einem trüben Novembersonntag hat man sich gefragt, wofür man aufgestanden ist.“ Trost erhielt Klaus Baumgart in Form typischer West-Berliner Bonbons: Vier Tage arbeiten, zwei Tage frei. Bowling als Betriebssport samt Teilnahme an der deutschen Meisterschaft. Und der „Geldtag“, weil man ja sein Gehalt von der Bank abholen musste. Lange her.

Auch in der Nacht, als die Mauer fiel, war Klaus Baumgart bowlen. Als er im Dienst am nächsten Morgen unter der Bornholmer Straße durchfuhr, schaute er fasziniert zu den Menschenmassen hoch, die sich über die Bösebrücke schoben. Bernd Wulff war am späten Abend hier entlang- gefahren, nur ein paar Meter weiter drüben, auf den Ostgleisen. „Jetzt rollen sie uns von Westen her auf oder lassen alle Fluchtwilligen raus“, habe er gedacht, als er die Leute auf der Brücke und die aufgeregten Grenzer mit ihren Hunden sah.

Baumgart hatte sein Schlüsselerlebnis am Morgen danach am Anhalter Bahnhof: drei junge Männer, erkennbar Ossis, die die Nacht im Westen verbracht hatten. Als der Zug zur Friedrichstraße einfuhr, stiegen zwei ein. Der Dritte blieb stehen, sagte plötzlich: „Ich bleibe hier. Wer weiß, wann die Grenze wieder zu ist.“ Da bekommt Baumgart jetzt noch Gänsehaut.

In den folgenden Monaten wurde die Sensation zur Normalität und die S-Bahn zur schnellsten Verbindung zwischen Ost und West. Wulff sah in Gedanken das alte Netz auferstehen und die Geisterbahnhöfe wie den am Brandenburger Tor zu neuem Leben erwachen. Von Marzahn nach Charlottenburg, vom Wannsee nach Potsdam, auf dem Ring ums Herz der Stadt und irgendwann vielleicht von Königs Wusterhausen nach Falkensee. Auch Baumgart, inzwischen für Ost-Strecken geschult und mit rappelvollen Acht-Wagen-Zügen unterwegs („Die Bahnsteige schienen plötzlich so kurz!“) fühlte sich wie auf Siebenmeilenstiefeln. Freute sich über die Gärten im Umland und über die Frauen, die darin in der Sonne lagen. Und endlich wieder große Hallen wie die am Ostbahnhof! Mit den Strecken wuchs das Arbeitspensum, aber die auflebende Stadt entlang der Gleise war Lohn genug.

1997 musste Baumgart sich entscheiden: zurück zur BVG oder für immer S-Bahn? „Ich wollte nicht wieder in den Keller“, sagt er und meint die U-Bahn-Tunnel. Eine Abfindung durch die BVG ließ ihn die Gehaltseinbuße bei der S-Bahn verschmerzen. Als Ostfirma empfand er seinen neuen Arbeitgeber nicht, zumal sie ja hier wie da mit Zügen aus den 1920er Jahren unterwegs waren.

Die fabrikneuen Züge trugen ab 1996 zur moralischen Einheit der S-Bahner bei: Jetzt sah man dem Kollegen im Gegenzug nicht mehr an, woher er stammte. Seitdem wird beim Begegnen durchweg dünkelfrei gegrüßt. Zumal sie ja täglich mehrfach von Ost nach West und von West nach Ost fahren – Wulff, der noch immer in Treptow wohnt, und Baumgart, der an seinem Wedding hängt. Wenn Baumgart auf dem Ring Dienst hat, fährt er zwischen Sonnenallee und Treptower Park an jenem Mietshaus vorbei, das er 1960 mit seiner Familie als Neunjähriger verließ, um in den Westen auszureisen.

Bernd Wulff fand die DDR erträglich, aber das Jetzt begeistert ihn täglich neu: Am Zentralviehhof an der Storkower Straße, wo einst ein Kollege eine ausgebüxte Kuh erlegt hat, ist ein völlig neues Stadtviertel entstanden. „Und von Ostbahnhof bis Charlottenburg ist kaum noch was wiederzuerkennen.“ Baumgart nickt: „Wenn ich früher am Anhalter Bahnhof ausgestiegen bin, war dort ein Finanzamt und sonst nur Brache. Jetzt strömen da Touristenmassen mit ihren Faltplänen.“

Bernd Wulff sagt, als S-Bahn-Fahrer lebe man mit der Stadt. „Man sieht sie aufwachen, arbeiten, feuern und schlafen.“ Wenn er seinen Kollegen Klaus Baumgart beneidet, dann um die Chance, 2012 zum neuen Flughafen zu fahren. Baumgart ist 59, Wulff wird im Dezember 65. Sein Arbeitsleben endet mit dem Spätdienst zu Silvester. „Ich hoffe, dass man mir den lässt.“

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