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Andreas Geisel war als damaliger Innensenator für die Wahlen 2021 zuständig.

© Foto: Tagesspiegel/Doris Spiekermann-Klaas

Update

Auch Landeswahlleiter rechnet mit Wiederholung: Berliner Opposition fordert Geisel-Rücktritt – Linke spricht von „kompletter Klatsche“

Das Landesverfassungsgericht neigt dazu, die Berlin-Wahlen wiederholen zu lassen. Seine Einschätzung erschüttert sowohl Koalition als auch Opposition. Die Reaktionen.

| Update:

Die mögliche komplette Wahlwiederholung in Berlin hat zu Rücktrittsforderungen der Opposition gegen Senator Andreas Geisel (SPD) geführt – und auch die rot-grün-rote Koalition erschüttert. Der neue Landeswahlleiter Stephan Bröchler rechnet damit, dass es tatsächlich zu einer neuen Wahl kommen wird. Der Verfassungsgerichtshof habe eine „klare Ansage“ gemacht, die Spielräume, im endgültigen Urteil noch etwas zu ändern, seien daher „relativ gering“, sagte Bröchler am Mittwochabend im rbb. Dass das Gericht seine Einschätzung nach der Verhandlung noch einmal komplett ändern werde, sei eher unwahrscheinlich.

In der mündlichen Verhandlung über Einsprüche gegen die Wahlen zum Abgeordnetenhaus und den Bezirksverordnetenversammlungen hatte der Verfassungsgerichtshof am Mittwoch nach einer vorläufigen Einschätzung deren komplette Wiederholung in Betracht gezogen. Gerichtspräsidentin Ludgera Selting begründete das mit Wahlfehlern, die Auswirkungen auf die Mandatsverteilung und die Zusammensetzung des Parlaments gehabt haben könnten.

Ein mieseres Zeugnis kann ein Gericht den für die Wahl Verantwortlichen nicht ausstellen.

Berlins Grünen-Vorsitzende Susanne Mertens und Philmon Ghirmai

Die mitregierende Linke nannte die vorläufige Einschätzung des Verfassungsgerichtshofs „eine komplette Klatsche für den damaligen Innensenator und die zuständige Innenverwaltung“, wie Landesgeschäftsführer Sebastian Koch erklärte. „Sie hat als Aufsichtsbehörde sehenden Auges versagt.“ Die vorgetragenen Fehler seien „bestürzend“, sagte Linke-Politiker Koch. „Es muss jetzt sichergestellt werden, dass sich solch ein Debakel auf keinen Fall wiederholen darf.“ Koch kündigte Vorbereitungen für eine mögliche Wiederholungswahl an.

Katina Schubert, Chefin der Linkspartei, sprach mit Blick auf die vorläufige Einschätzung des Gerichts von einem „heftigen Schlag, auch ins Gesicht der Innenverwaltung“. Diese sei nun gefordert, sämtliche Missstände aufzuarbeiten und eine Wiederholung zu vehindern. Die Koalition rief sie dazu auf, entscheidungsfähig zu bleiben, schließlich müssten die Krisen der Zeit gelöst und die Menschen unterstützt werden.

Auch die Grünen, ebenfalls Teil der Koalition, zielten auf SPD-Mann Geisel. „Ein mieseres Zeugnis kann ein Gericht den für die Wahl Verantwortlichen nicht ausstellen“, erklärten die Landesvorsitzenden Susanne Mertens und Philmon Ghirmai. Die Grünen-Spitze forderte: „Die Innenverwaltung steht in der Pflicht sicherzustellen, dass die etwaige Wiederholungswahl ordnungsgemäß stattfindet. Berlin hat eine Führung verdient, die diese Stadt fit für die Zukunft macht.“

Von der SPD, stärkste Kraft in der Koalition, war zunächst wenig zu hören. Der Landesvorsitzende Raed Saleh verwies lediglich auf die noch ausstehende endgültige Entscheidung des Gerichts und die Notwendigkeit, dass das Parlament angesichts der Folgen des Krieges in der Ukraine weiterarbeiten müsse.

Opposition hält Geisels Rücktritt für unausweichlich

Die Oppositionsparteien CDU, AfD und FDP verlangten den Rückzug von Bausenator Andreas Geisel (SPD), der am Wahltag Innensenator war. „Wer das Vertrauen in Wahlen erschüttert, gefährdet unsere Demokratie. Ich finde es schlimm, dass bis heute weder die SPD, noch der für das Wahlchaos verantwortliche Senator Geisel Konsequenzen gezogen haben“, teilte Berlins CDU-Generalsekretär Stefan Evers mit. „Ich halte seinen Rücktritt für unausweichlich.“

„Deutlicher konnte das Gericht heute kaum werden: Berlin muss sich auf komplette Neuwahlen einstellen. Wir sind dafür bereit. Bereit, diesen Senat abzulösen“, kündigte Evers an. „Rot-Grün-Rot hat unsere Stadt vor der ganzen Welt blamiert. Es ist beschämend, es reicht.“ Er sei sicher, dass die Berliner sehr bald die Chance bekämen, diesem Senat die rote Karte zu zeigen. „Berlin hat eine bessere Regierung verdient.“

Evers: Senat hat auch Vorbereitungen für mögliche Neuwahl verschleppt

Evers kritisierte, der Senat habe trotz Warnungen der CDU die Vorbereitungen für eine mögliche Neuwahl lange verschleppt. „Eine Wiederholung der Wahl darf nicht zur Wiederholung des Chaos führen“, sagte Evers. „Frau Giffey mag jetzt Regierende auf Abruf sein: Zumindest um funktionierende Wahlen muss sie sich aber noch kümmern“, sagte er mit Blick auf die Regierende Bürgermeisterin Franziska Giffey (SPD).

Auch Berlins AfD-Vorsitzende Kristin Brinker legte Geisel und zudem Innenstaatssekretär Torsten Akmann (ebenfalls SPD) einen Rücktritt nahe. Dies wäre „konsequent“, da sie für die Wahlfehler verantwortlich seien, sagte sie dem Tagesspiegel.

Sie sah sich durch die erste Einschätzung des Gerichts in ihrer Auffassung bestätigt. „Die Ausführungen von Landeswahlleitung und Senat waren nicht geeignet, diese Bedenken des Gerichts zu widerlegen“, sagte Brinker. „Das Gericht kann gar nicht anders, als unserem Antrag auf Wahlwiederholung zu folgen.“

Wir sehen dem Wahltermin im Frühjahr mit Spannung entgegen.

Kristin Brinker, Berlins AfD-Chefin

Die Parteichefin wies darauf hin, dass das Gericht viele vermeidbare Wahlfehler aufgelistet und diese nur als „Spitze des Eisbergs“ bezeichnet habe. „Die Verhandlung zeigt, wie viele mandatsrelevante Fehler es bei der Abgeordnetenhauswahl gegeben hat.“ Wenn das Vertrauen in die Demokratie nicht erschüttert werden solle, dann dürfe diese Wahl keinen Bestand haben – so fasste Brinker die Einschätzung des Gerichts zusammen. Das teile sie auch.

„Ich bin zuversichtlich, dass selbst in einer Stadt wie Berlin das demokratische Gemeinwesen über genug Selbstheilungskräfte verfügt, die unsere Stadt jetzt dringender denn je benötigt“, sagte die AfD-Chefin. „Wir sehen dem Wahltermin in Frühjahr mit Spannung entgegen.“

Das Wahldesaster steht sinnbildlich für die Dysfunktionalität weiter Teile der Berliner Verwaltung.

Christoph Meyer, Berlins FDP-Vorsitzender

„Das Wahldesaster zur Abgeordnetenhaus- und BVV-Wahl im letzten Jahr steht sinnbildlich für die Dysfunktionalität weiter Teile der Berliner Verwaltung“, teilte der FDP-Landesvorsitzende Christoph Meyer mit. „Die Verantwortung trägt zuvorderst die SPD, welche in den letzten Jahren mit diversen Partnern auf Landes- und Bezirksebene die Missstände immer weiter verschlimmert hat.“ Eine komplette Wahlwiederholung wäre „folgerichtig“, sagte Meyer – die zahllosen Wahlfehler „fressen“ sich in Ihrer Erheblichkeit durch die Wahllisten der Parteien, so dass nur eine Wahlwiederholung im gesamten Stadtgebiet angezeigt scheint.

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Auch Meyer forderte Geisels Demission. „Andreas Geisel ist als seinerzeit zuständiger Senator nicht mehr zu halten, er sollte weiteren Schaden vom Ansehen des Senats durch seinen sofortigen Rücktritt abwenden.“ Der FDP-Chef empfahl seine Partei für „einen durchgreifenden Neuanfang“ – und begründete das mit ihrer Erfolglosigkeit in der Vergangenheit. „Die Berliner FDP steht als einzige politische Kraft, welche in den letzten Jahrzehnten in Berlin oder den Bezirken keine Regierungs-Verantwortung getragen hat, für diesen Neuanfang bereit!“

Der ehemalige FDP-Abgeordnete Marcel Luthe freute sich über die Rechtseinschätzung des Gerichts. Er hatte den Aufklärungsprozess mit vorangetrieben, sein Einspruch gegen die Wahl wird aber nicht verhandelt. „Schön, dass das Gericht meiner Argumentation weitgehend gefolgt ist“, sagte Luthe dem Tagesspiegel. Nach seiner Ansicht sei das Parlament aber nicht mehr demokratisch legitimiert und müsse deshalb sofort aufgelöst werden.

Auch aus der Wirtschaft kam scharfe Kritik am Senat – gemischt mit Besorgnis. „Das vorläufige Urteil des Landesverfassungsgerichts ist die erwartete schallenden Ohrfeige für die politischen Verantwortungsträger dieser Stadt“, teilte VBKI-Präsident Markus Voigt dem Tagesspiegel mit. „Als Demokraten begrüßen wir die sich nun abzeichnenden Neuwahlen, obgleich Berlin – und das gilt natürlich insbesondere für die Berliner Wirtschaft – in dieser Zeit der multiplen Krisen sicherlich nichts mehr benötigt als politische Stabilität und Verlässlichkeit.“

Voigt sprach von einem „weiteren Höhepunkt auf einer inzwischen langen Liste von Fehlleistungen“ – und attackierte den Senat: „Der eigentliche Skandal liegt doch darin, mit welcher Nonchalance die politischen Verantwortungsträger über die Katastrophenwahl vom vergangenen September hinweggegangen sind.“ Daher müsse es politische Konsequenzen geben. (mit dpa)

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