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Immer wieder wurden 2024 auch jüdische Einrichtungen und Gedenkorte attackiert.

© dpa/Annette Riedl

Update

„Mehr Vorfälle als je zuvor registriert“: Recherchestelle RIAS dokumentiert deutlich mehr antisemitische Übergriffe in Berlin

Die Recherchestelle Antisemitismus (RIAS) hat am Donnerstag ihre Zahlen zum ersten Halbjahr 2024 veröffentlicht. Seit dem 7. Oktober 2023 nehme die Gewalt zu – und es drohe eine Normalisierung.

Stand:

Die Zahl antisemitischer Vorfälle hat in Berlin deutlich zugenommen. Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) hat im ersten Halbjahr 2024 mit 1383 bereits mehr Vorfälle registriert als im gesamten Jahr 2023. Das geht aus einem neuen Bericht vor, den RIAS am Donnerstagmorgen vorgestellt hat – und der dem Tagesspiegel vorab vorlag.

Damit seien mehr Vorfälle registriert worden als in jedem anderen Jahr seit Beginn der Dokumentation 2015, hieß es. 2023 hatte die Recherchestelle im gesamten Jahr 1270 Vorfälle dokumentiert.

„Wir blicken zurück auf eins der schwierigsten Jahre, Antisemitismus hat Hochkonjunktur in Berlin und bundesweit“, sagte Julia Kopp, Projektleiterin bei RIAS.

Mit durchschnittlich 230 registrierten Vorfällen pro Monat habe sich seit dem 7. Oktober 2023, dem Tag des Hamas-Angriffs auf Israel, das Ausmaß antisemitischer Ereignisse „auf einem hohen Niveau verstetigt“. Die Autor:innen des Berichts sprechen von einer „drohenden Normalisierung“. Vor dem 7. Oktober habe der Durchschnitt bei 50 Vorfällen pro Monat gelegen.

1383
antisemitische Vorfälle hat RIAS im ersten Halbjahr 2024 registriert

Unter den registrierten Vorfällen sind auch zwei Delikte, bei denen in Deutschland lebende Juden schwer verletzt wurden. Einer der beiden Vorfälle ist der Angriff auf den Studierenden Lahav Shapira am 2. Februar 2024, dem ein Kommilitone aus antisemitischen Gründen unter anderem die Nase und das Jochbein gebrochen haben soll.

Attackierter Schaukasten mit einer Ausstellung zur jüdischen Geschichte des Krankenhauses von Berlin-Moabit.

© dpa/Annette Riedl

In dem anderen Fall wurde ein jüdischer Ukrainer am 3. Mai auf dem Weg zur Synagoge in Mitte von einem Unbekannten attackiert und antisemitisch beleidigt. Der Angreifer soll ihn unter anderem zu Boden gestoßen und dabei immer wieder „Free Palestine“ gerufen haben. Der Ukrainer, der bereits seit seiner Flucht vor dem russischen Angriffskrieg unter einer posttraumatischen Belastungsstörung leiden soll, brach sich bei dem Angriff unter anderem die Hand.

Der Betroffene ist Mitglied der jüdischen Gemeinde Kahal Adass Jisroel in Berlin. Deren Geschäftsführerin Anna Chernyak Segal sagte am Donnerstag, das Erschreckende – außer der Schwere des Angriffs – sei, dass die Polizei offiziell keine Zeugen ermitteln konnte, obwohl zahlreiche Menschen den Vorfall beobachtet hätten und er auch gefilmt worden sei.

RIAS registrierte darüber hinaus 23 weitere körperliche Angriffe und 28 Bedrohungen. Personen seien etwa bespuckt, ins Gesicht geschlagen oder an den Haaren gezogen worden, heißt es in dem Bericht. Im gesamten Vorjahr hatte RIAS 34 Angriffe registriert, auch hier ist also ein deutlicher Anstieg zu verzeichnen.

Insgesamt sei der Ton deutlich gewaltvoller, heißt es in dem Bericht: Das äußere sich etwa in Schmierereien, die offen zum Töten von Jüdinnen und Juden aufrufen. Die meisten Delikte registrierte RIAS dabei in den Bezirken Mitte (192), Neukölln (125) und Friedrichshain-Kreuzberg (122), die wenigsten in Marzahn-Hellersdorf (5) und Spandau (11).

Besonders häufig würden antisemitische Vorfälle bei und am Rande von Demonstrationen beobachtet, dann meist in Kombination mit israelfeindlichen Positionen. Häufig würden israelfeindliche Parolen auch mit antisemitischen Stereotypen, etwa „Kindermörder Israel“, oder einer Terrorverherrlichung beispielsweise der Hamas kombiniert.

Aber auch im öffentlichen Raum – etwa in öffentlichen Verkehrsmitteln – und im Internet nehme der Antisemitismus spürbar zu, heißt es in dem Bericht. Besonders alarmierend sei die Situation an den Schulen: Jüdische oder israelische Kinder würden von ihren Mitschüler:innen bespuckt, bedroht, angefeindet und geschlagen. Insgesamt 74 Vorfälle registrierte RIAS im ersten Halbjahr an Bildungseinrichtungen, davon 27 an Schulen. Hier geht RIAS von einer hohen Dunkelzahl aus, etwa weil Kinder Angst vor weiteren Anfeindungen haben könnten. 

Sigmount Königsberg, Antisemitismusbeauftragter jüdischen Gemeinde zu Berlin sagte, an den Schulen und Oberschulen der Gemeinde habe es in der Vergangenheit zwei Drittel an Schülerinnen und Schülern gegeben, die aus Interesse und Neugier kamen und ein weiteres Drittel, weil sie sich an ihren bisherigen Schulen nicht wohlgefühlt hätten. Inzwischen habe sich das Verhältnis umgedreht.

Laut Bericht können 70 Prozent der Vorfälle keinem bestimmten politisch-weltanschaulichen Hintergrund zugeordnet werden. Knapp 15 Prozent der Vorfälle rechnet der Bericht dem antiisraelischem Aktivismus zu, knapp fünf Prozent dem verschwörungsideologischen Spektrum, etwa drei dem links/antiimperialistischem, vier Prozent dem rechtsextrem/rechtspopulistischem Spektrum und etwas mehr als ein Prozent dem islamisch/islamistischem.

Betroffene berichten von mangelnder Solidarität

Der RIAS-Bericht weist darauf hin, dass eine Konsequenz der Vorfälle sei, dass jüdisches Leben in Berlin weniger sichtbar und offen stattfinde. Jüd:innen würden in Berlin kontinuierlich mit antisemitischen Inhalten konfrontiert, egal ob in Gesprächen, bei Demonstrationen oder durch Schmierereien im Stadtbild.

Daher würden Jüd:innen sich vermehrt zurückziehen, weniger offen auftreten und Schutzmaßnahmen ergreifen. Zudem würden viele Jüd:innen berichten, dass sie sich isoliert und unsicher fühlen würden, Sorgen machten und es an Solidarität mangele.

Segal von der Gemeinde Kahal Adass Jisroel  schilderte dies in eindringlichen Worte aus ihrem Gemeindeleben. Aus ihrer Sicht seien die im Bericht vermerkten Fälle „nur die Spitze des Eisbergs“. Kleine Fälle würden von vielen gar nicht gemeldet, denn sonst „wäre man jeden Tag damit beschäftigt“.

Sie äußerte sich auch zu Aussagen von Berlins Polizeipräsidentin Barbara Slowik. Diese hatte kürzlich gesagt, sie müsse jüdischen und queeren Menschen raten, in bestimmten Gegenden in Berlin „aufmerksamer zu sein“. Segal sagte dazu: „Für uns war das eine realistische Bestandsaufnahme, und wir haben uns eigentlich gefreut, dass das mal jemand so öffentlich bestätigt hat.“ Ähnlich hatte sich zuvor der Antisemitismusbeauftragte der jüdischen Gemeinde geäußert.

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