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Katharina Günther-Wünsch (CDU), Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, besucht eine neu eröffnete Geflüchtetenunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Charlottenburg. Das Wohnheim ermöglicht eine Vielzahl von Lern- und Freizeitangeboten.

© dpa/Jens Kalaene

Update

Unbegleitete minderjährige Flüchtlinge: Neues Vorzeige-Wohnheim in Berlin eröffnet – doch die Probleme bleiben groß

Täglich kommen Geflüchtete in Berlin an. Rund sieben pro Tag sind Minderjährige, die ohne ihre Eltern unterwegs sind. In Charlottenburg soll ihnen die Ankunft erleichtert werden.

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In Berlin kommen seit geraumer Zeit mehr Flüchtlinge an – darunter sind auch viele Minderjährige ohne Begleitung ihrer Eltern, mitunter fliehen sie gemeinsam mit anderen jungen Verwandten. In Charlottenburg-Wilmersdorf gibt es ein neues Wohnheim für sie. In dem ehemaligen Hostel ist Platz für 102 Bewohner, wie Peter Werner vom Träger am Donnerstag bei einem Besuch von Bildungssenatorin Katharina Günther-Wünsch (CDU) berichtete.

Sie sind wie der 15-jährige Junge aus Syrien unerschrocken durch mehrere Länder zu Fuß gelaufen, „und mir taten die Beine sehr weh, ich hatte Verletzungen an den Füßen“. Sie haben sich wie der gleichaltrige Junge aus Nigeria nicht von der Verhaftung von Schleppern in libyschen Lagern mit Gelderpressung stoppen lassen: „Ich habe gebetet und mit neuer Kraft weitergemacht, ich gebe niemals auf“, sagt er dem Tagesspiegel, und man spürt, dass das stimmt.

Die Flucht ist im Vergleich zu 2015/16 weit teurer geworden: Damals haben die Verwandten vom Herkunftsland aus für die Strecke Syrien-Berlin noch etwa 5000 Dollar an Schlepper überwiesen, heute kostet die Strecke etwa 12.500 Euro für einen jungen Menschen. Doch der Wunsch nach einem Leben in Frieden, Wohlstand und Demokratie ist ungebrochen – wie die Zugangszahlen in der Hauptstadt.

Deutschkurse, Freizeitangebote und psychologische Betreuung

70 Teenager werden derzeit in dem ehemaligen Hostel betreut, sie sind meist zwischen 15 und 17 Jahre jung. Die im Inneren an ein Hotel erinnernde neu ausgebaute Erstaufnahmeeinrichtung mit Zwei- und Vierbettzimmern bietet nicht nur WLAN, TV-Geräte sowie Koch- und Aufenthaltsräume, sondern auch praktische Beratung zum neuen Leben in Berlin. Die Jugendlichen sollen hier wieder eine Tagesstruktur erlernen.

Auf den Etagen gibt es Aufenthaltsräume, im Keller wird gerade ein Freizeitbereich ausgebaut.
Auf den Etagen gibt es Aufenthaltsräume, im Keller wird gerade ein Freizeitbereich ausgebaut.

© Annette Kögel

Es gibt Deutschkurse, gemeinsam mit sozialen Trägern werden Freizeit- oder Sportaktivitäten angeboten. Beim Blick auf die Pinnwand erkennt Katharina Günther-Wünsch die arabischen Schriftzeichen, sie hat die Sprache mal einige Zeit lang gelernt.

Der Betreuungsschlüssel in der Vorzeige-Unterkunft ist im Vergleich zu den anderen rund 25 Einrichtungen sehr gut, 4,5 Personen kommen auf zehn Bewohner. Zum Team gehört auch eine engagierte Hauswirtschaftskraft, selbst Mutter und aus Kenia stammend. „Ich sage den Jungs immer, lernt Deutsch, macht eine Ausbildung, Ihr habt hier eine großartige Zukunft vor euch“, sagt sie am Rande des Festes am Kindertag, bei dem auch gekocht, getrommelt und Grafittikunst gesprüht wird.

Hier findet ein Graffiti-Workshop statt.
Hier findet ein Graffiti-Workshop statt.

© dpa/Jens Kalaene

Die Jugendlichen werden auch psychologisch betreut, da etliche nach monatelanger oder teils jahrelanger Flucht durch die Wüste, die Mittelmeerpassage, dem elendigen Dasein in Camps in Italien oder Griechenland oder infolge einer Massenpanik traumatisiert sind. Andere verkraften alles Schlimme gut, auch dank Stabilisierung im neuen Leben.

Zur Feier des Tages gab es eine Kunstaktion - von und für die jungen Menschen und die Gäste aus Politik und von den Medien.
Zur Feier des Tages gab es eine Kunstaktion - von und für die jungen Menschen und die Gäste aus Politik und von den Medien.

© dpa/Jens Kalaene

Mangel an Plätzen und Fachpersonal verlangsamt Integrationsprozess

Aktuell bleiben die jungen Geflüchteten rund fünf Monate in der Erstaufnahmeeinrichtung, dann werden sie an die Bezirke weiterverteilt. Das Landesjugendamt betreibt auch Unterkünfte speziell für Mädchen und für kleine Kinder, sie machen aber an der Gesamtmenge der minderjährigen Unbegleiteten die geringste Zahl aus.

Da reguläre Plätze – und vor allem Fachpersonal – in der Jugendhilfe der Bezirke fehlen, etwa in Wohngruppen oder bei Pflegeeltern, und gleichzeitig weiter neue junge Zuwanderer kommen, dauert das „Clearing“ zu Schule, Gesundheit, Familie weit länger als beabsichtigt.

Minderjährige Jugendliche aus Syrien und Palästinenser haben in der Regel den Auftrag und Wunsch, ihre Eltern und Geschwister über den Familiennachzug nach Berlin zu holen. Auch junge Menschen aus Eritrea und Somalia haben Chancen auf Asyl. Andere der afrikanischen Jugendlichen haben sie nicht; können aber zum Beispiel über Ausbildungsduldung bleiben.

Anstieg der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge

Die Zahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge war im vergangenen Jahr stark angestiegen. Infolge des russischen Angriffskrieges kamen allein 1157 unbegleitete minderjährige Geflüchtete aus der Ukraine. Aus Afghanistan kamen 615, aus Syrien 428 Kinder und Jugendliche. Zunehmend ist auch die Zahl der jungen Türken und Kurden aus der Türkei (2022: 403).

Mit den 93 jungen Libanesen und weiteren jungen Menschen aus insgesamt 96 Herkunftsländern waren es 3203 unbegleitete Geflüchtete in 2022, Rekord seit 2015/16. Laut Senatsbildungsverwaltung kamen in diesem Jahr bis Ende Mai 802 dieser jungen Menschen in Berlin an – genauso viele wie 2022.

Rund 880 unbegleitete minderjährige Flüchtlinge leben derzeit in Erstaufnahme- und sogenannten Clearingeinrichtungen des Landesjugendamtes. Rund 280 weitere Plätze stehen zur Verfügung. Dazu kommen die bereits an die Bezirke weiterverwiesenen jungen Menschen.

Senatorin Günther-Wünsch verwies auf die anhaltend hohe Zahl von Neuankömmlingen bei gleichzeitig knappen Ressourcen bei der Unterbringung und Betreuung sowie auf den Fachkräftemangel. „Das Thema hat extrem an Brisanz zugenommen“, sagte sie zur aktuellen Lage. Mit der neuen Unterkunft solle den jungen Menschen wertschätzend begegnet werden.

Bundesländer lehnen Studie ab

Jugendstaatssekretär Falko Liecke (CDU) sagte bei dem Rundgang, er bedauere, dass einige Bundesländer die Initiative, mit einer Studie zu untersuchen, wie sich die Lebenswege der unbegleiteten minderjährigen Geflüchteten nach der Ankunft mittel- und langfristig entwickelten, ablehnten und sie daher nicht umgesetzt werde. Dabei seien solche Erkenntnisse sehr wichtig.

Nach Erfahrungen von Berliner Experten der Sozialarbeit, des Bildungswesens und der Jugendhilfe laufen das Ankommen, die Integration, der persönliche und berufliche Lebensweg oft sehr erfolgreich, wenn in den Teenagerjahren, wo die leiblichen Eltern als Erziehungspersonen fehlen, andere Erwachsene wie ehrenamtliche Vormünder, Paten, Mentoren oder Pflegeeltern an der Seite stehen.

Einige der zunächst ohne ihre Eltern geflüchteten Kinder und Jugendlichen von 2015/16 aus Syrien und Afghanistan haben jetzt ihr Abitur in der Tasche oder machen eine Ausbildung. Unterdessen beklagen Wirtschaftsvertreter in Berlin immer wieder die Erfahrung, dass auch junge Geflüchtete teils Jobcenter-Bezüge einer Lehre vorziehen, da diese mehr Leistungen und Geld umfassten. Andere seien hoch motiviert.

Katharina Günther-Wünsch (CDU), Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, hat die neu eröffnete Geflüchtetenunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Charlottenburg besucht.
Katharina Günther-Wünsch (CDU), Senatorin für Bildung, Jugend und Familie, hat die neu eröffnete Geflüchtetenunterkunft für unbegleitete minderjährige Flüchtlinge in Charlottenburg besucht.

© dpa/Jens Kalaene

Die Aufnahme der jungen Menschen „wird uns in diesem und im nächsten Jahr noch sehr umtreiben“, so Günther-Wünsch. Die Versorgung und Betreuung junger unbegleiteter Flüchtlinge sei herausfordernder und aufwendiger als bei Erwachsenen, sagte sie auf Nachfrage. Denn etliche benötigten Begleitung praktisch rund um die Uhr. Vor diesem Hintergrund forderte Falko Liecke mehr Unterstützung des Bundes bei dieser Aufgabe. Dringend notwendig seien unter anderem gezielte Angebote der Sprachförderung.

Günther-Wünsch lobte das neue Wohnheim bei der Besichtigung als Beispiel für gelungene Willkommenskultur. „Hier kommen die Jugendlichen nach oft schlimmen Fluchterfahrungen zur Ruhe.“ Durch intensive Betreuung und unterstützende Angebote würden sie auf ein selbstbestimmtes Leben vorbereitet.

Familiennachzug kann Jahre dauern

Der junge Geflüchtete aus Nigeria berichtet dem Tagesspiegel noch auf Englisch, er sei erst seit knapp zwei Wochen in Berlin. Nach seinen Erzählungen gelang es ihm dank seines unbändigen Willens, die zwei Verhaftungen mit Gelderpressungen durch Menschenhändler in Libyen zu überleben und halb Europa ohne Essen und Trinken bis zu seinem Zielort zu durchqueren. Er hat den Traum, Fußballspieler zu werden.

Sein ebenfalls 15-jähriger Mitbewohner aus Syrien will dringend seine Familie nachholen, sagt er. „Ich telefoniere alle zwei Tage über WhatsApp mit meiner Mutter und wir sagen uns, dass wir uns sehr vermissen.“ Als er hört, dass der Familiennachzug wegen der durch die hohen Flüchtlingszahlen völlig überlasteten Behörden Jahre dauern kann, senkt der Junge betroffen und traurig den Kopf.

Senatorin Katharina Günther-Wünsch mahnt auf dem Rundgang an, dass für die berufliche Integration Qualifikationen aus den Heimatländern schneller anerkannt werden sollten. Zudem müssten die Hürden für die Einstellung von Fachpersonal in den Unterkünften angepasst werden.

Woanders in Berlin können die Kinder und Jugendlichen ohne Vater und Mutter auf der Flucht von dem Standard der neuen Unterkunft in Charlottenburg indes nur träumen. Dort gibt es weit weniger Angebote, Spenden von Nachbarn für Freizeitangebote – und auch nicht rund um die Uhr einen Betreuer oder eine Betreuerin an der Seite. Das Modell, wie in Charlottenburg künftig vom Land und dem Bezirk aus die Unterbringung der jungen Menschen an einem Ort gemeinsam zu koordinieren, soll in Berlin künftig Schule machen.

Spenden kann man für unbegleitete minderjährige Geflüchtete Dinge wie Kleidung bei dem Hilfeprojekt „UMgeben“.

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