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Ein syrisches Mädchen in einer Notunterkunft, die in einem ehemaligen Schulgebäude für die Erdbebenopfer eingerichtet wurde.

© imago/ITAR-TASS / IMAGO/Valery Sharifulin

Schweigeminute für die Erdbebenopfer: Berlins Schüler sind zu Tausenden mitbetroffen – und helfen tatkräftig

Schweigen, Reden, aber vor allem Spenden: Berlins Schulen haben am Dienstag den Opfern des katastrophalen Bebens in Türkei und Syrien gedacht.

Um elf Uhr wurde es still in Berlins Klassenzimmern. Der Impuls von Bildungssenatorin Astrid-Sabine Busse (SPD), am Dienstag eine Schweigeminute abzuhalten, wurde an unzähligen Schulen aufgegriffen. Zumal eine immense Zahl der Schüler:innen durch ihre Familienverbindungen direkt vom Erdbeben betroffen ist.

„Herzzerreißend“ seien die Berichte der Jugendlichen, sagt Schulleiter Engin Catik. Auch an seiner Johanna-Eck-Schule in Tempelhof haben Schüler:innen und Beschäftigte Angehörige verloren. Abgesehen von der Schweigeminute gebe es viele weitere Wege, auf denen jetzt versucht werde, das Geschehen zu verarbeiten. Einer dieser Wege sei, dass die Jugendlichen Geld sammelten: „Wir hatten die ganze Woche über einen Kuchenverkauf“, berichtet der Schulleiter.

Die Solidarität steht über politischen Meinungsverschiedenheiten, das ist ein schönes Signal.

Bünyamin Baykus, Schulleiter in Spandau, hat bei dem Beben selbst Angehörige verloren

Aber auch im Unterricht wird versucht, das Thema aufzufangen. Oft sind es die Ethik- und Religionsstunden, die genutzt werden, damit die Schüler:innen ihre Nöte und Fragen austauschen können. An der Johanna-Eck-Schule gibt es zudem noch besondere Fächer wie „Glück“, „Verantwortung“, „Zukunft“ und „Haltung“, die jetzt willkommen sind, um in Worte zu fassen, was kaum fassbar ist.

In Berlin ist die Betroffenheit besonders groß, weil hier überdurchschnittlich viele Nachkommen der ehemaligen Gastarbeiter aus der Türkei leben. Von denen wiederum kamen viele nach dem großen türkischen Erdbeben von 1966: Sie hatten zu Hause alles verloren, und der türkische Staat vermittelte, dass sie nach Deutschland und vor eben auch nach Berlin kamen. Insofern dürften viele aus der jetzigen Großelterngeneration noch genau wissen, was es bedeutet, wenn ein Erdbeben alles nimmt.

Überall starten Schüler Hilfs- und Spendensammelaktionen

Wie viele der über 400.000 Berliner Schüler:innen Verwandte in der Türkei haben, lässt sich nicht sagen, weil bis auf etwa 4000 alle einen deutschen Pass haben. Zehntausende aber werden es sein, deren Vorfahren als Gastarbeiter oder über den Ehegattennachzug in Berlin Fuß fassten. Zudem gibt es über 10.000 Berliner Schüler:innen, die erst 2015/16 aus Syrien kamen. Auch von ihnen sind etliche in irgendeiner Form vom Erdbeben betroffen.

„Aus der Betroffenheit ist eine Welle von Aktionen entstanden“, berichtet Karin Kullick, die das Neuköllner Albert-Schweitzer-Gymnasium leitet. Ein großer Spendenbasar habe 1700 Euro erbracht, und die Schülerschaft habe selbst entschieden, dass das Geld an „Save the children“ gehen soll. „Alle haben mitgemacht“, saget Kullick, viele Familien seien zum Basar gekommen und hätten auch Hygieneartikel bis hin zum Babypuder und auch warme Kleidung gebracht, um den obdachlos gewordenen Menschen zu helfen, die alles verloren haben. In „jeder Klasse“ gebe es Betroffene, manche bangten noch immer um vermisste Angehörige.

Die Schulen bringen auch viel Fantasie auf, um Geld für die Erdbebengebiete zu sammeln. So konnte im Kreuzberger Bergmannkiez Kinder der deutsch-türkische Aziz-Europaschule sehen, die selbst gebastelte Postkarten, Lesezeichen und Buttons verkauften. „Außerdem organisieren wir Anfang März einen Spendenlauf“, kann Schulleiterin Demet Siemund nach einem Gespräch mit dem Förderverein berichten.

Die syrischen Schüler sollen sich nicht vergessen fühlen

Viel Reden und Erklären, so helfe er auch sich selbst, sagt Bünyamin Baykus. Der Schulleiter der freien Wilhelmstadtschulen in Spandau hat die Schweigeminute gemeinsam seinen 600 Mittel- und Oberstufenschüler:innen, mit Wurzeln in 25 Nationen, im Freien auf dem Schulhof absolviert. Um 10.55 Uhr haben sich alle draußen getroffen, erzählt Baykus, und er habe erst mal erklärt, was eine Schweigeminute ist und warum man so etwas macht. „Und weil ich auch Schüler:innen aus Syrien habe, habe ich betont, wie schwer eben nicht nur die Türkei, sondern auch ihr Land getroffen wurde“, sagt Baykus. Unter Tränen habe sich danach ein Mädchen, das schon 2015 vor dem syrischen Bürgerkrieg nach Berlin geflohen war, für diese Aufmerksamkeit bedankt.

Baykus‘ eigene Gedanken kreisen dennoch um die Türkei: Seine Familie stammt ausgerechnet aus Elbistan, dem Epizentrum des Bebens, und hat mehrere Verwandte und Bekannte verloren. Familienangehörige und Freund:innen sind zum Teil vor Ort, um zu helfen. Auch seine Schulgemeinschaft, berichtet Baykus, sei sofort in Aktion getreten: Schüler:innen verkaufen Waffeln auf dem Schulhof – wie schon bei der Flutkatastrophe im Ahrtal, erinnert Baykus sich stolz, das Geld überreichten sie dann persönlich einer betroffenen Grundschule.

In den nächsten Tagen und am Wochenende soll es auch am Einkaufszentrum Havelpark einen Waffelstand und Livemusik von Schüler:innen geben, um mehr Spenden zu sammeln. Geschäftsleute in der Elternschaft haben sich bereits zusammengetan und 200 Dixiklos für das Katastrophengebiet organisiert. Die riesige Solidarität gerade auch in der türkischen Community, in der Stadt und weltweit, hilft ihm in seiner Trauer genauso wie die vielen Gespräche, sagt Baykus: „Sie steht über politischen Meinungsverschiedenheiten, das ist ein schönes Signal.“

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