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Die Notaufnahme der Charité am Campus in Berlin-Mitte.

© imago images / Emmanuele Contini

Überlastete Rettungsstellen in Berlin: Zwei Drittel der Notaufnahmen-Patienten sind keine Notfälle

Berlins Rettungsstellen versorgen bis zu 1,3 Millionen Fälle im Jahr – 70 Prozent davon aber nur ambulant. Andere wichtige Daten aus den Kliniken verschweigt der Senat.

Fast 70 Prozent aller Fälle in Berlins Rettungsstellen werden nur ambulant versorgt – und die allermeisten dieser Patienten sind aus medizinischer Sicht keine Notfälle. Das geht mittelbar aus einer Antwort von Gesundheitsstaatssekretär Thomas Götz (Grüne) auf Anfrage von Christian Gräff (CDU) hervor. Erfahrene Klinikärzte bestätigen die Einschätzung.

Dass viele Patienten in den Notaufnahmen angemessen in einer Praxis hätten versorgt werden können, ist bekannt. Neu jedoch ist das Ausmaß der unnötigen Belastung der Krankenhäuser mit Bagatellfällen. Bislang war im politischen Berlin vage die Rede davon, dass 50 Prozent der Rettungsstellenfälle genauso gut vom niedergelassenen Arzt hätten versorgt werden können. Wie berichtet, verzweifeln Pflegekräfte und Ärzte daran, dass viele Patienten – eigenständig oder mit der Feuerwehr – ohne medizinische Not in den Kliniken ankommen und die Arbeit unnötig erschweren.

Konkret hatte Gräff, der Vorsitzender des Gesundheitsausschusses im Abgeordnetenhaus ist, den Senat gefragt, wie viele der Notaufnahme-Fälle später in einer Praxis hätten versorgt werden können. Staatssekretär Götz antwortete, die Krankenhäuser könnten die Frage nicht beantworten. Mitunter brauchen auch ambulante Patienten mit leichten Leiden umgehend Hilfe, wenn nachts und am Wochenende die Praxen geschlossen sind. Allerdings schreibt Götz: In den Jahren 2011 bis 2021 wurden von insgesamt 9,8 Millionen gemeldeten Fällen in den Rettungsstellen nur knapp drei Millionen stationär versorgt.

Vivantes-Rettungsstelle im Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg.
Vivantes-Rettungsstelle im Urban-Krankenhaus in Berlin-Kreuzberg.

© Tsp / Hannes Heine

Klinikärzte sagten dem Tagesspiegel dazu, von den ambulanten Fällen seien mindestens 90 Prozent keine Notfälle. Tenor in Berlins großen Rettungsstellen: Wer eine Notaufnahme verlasse, ohne stationär im Krankenhaus behandelt worden zu sein, sei meist kein Notfall – wenngleich es Ausnahmen gebe.

„Das ist dramatisch und belastet die Kliniken, die ja nicht dafür da sind, massenhaft Patienten zu diagnostizieren und zu behandeln, die gar kein Krankenhaus benötigt hätten“, sagte Gräff. „Der Senat muss tätig werden, wir brauchen eine besser koordinierte Versorgung durch die niedergelassenen Ärzte vor Ort.“

Der Senat setzt auf die für die Praxen zuständige Kassenärztliche Vereinigung (KV). Die KV hat gerade für Wochenenden und Nächte eine Bereitschaftsnummer: 116117, zudem gibt es in neun Berliner Krankenhäusern sogenannte Portalpraxen niedergelassener Ärzte. Dort schicken Klinikmediziner weniger schwere Fälle hin.

In Verhandlungen zählt auch die Masse an Patienten

Offiziell wollen viele Krankenhausleiter nicht über die erwähnten 70 Prozent reden. Zwar vergüteten die Kassen die ambulanten Fälle oft knapp, klagen Klinikmanager, sodass diese Patienten die Krankenhäuser mehr kosteten als erstattet werde. Doch auf diese Fälle verzichten wollen viele Kliniken dennoch nicht: In den Verhandlungen mit Politik und Kassen zählt auch die Masse an Patienten.

Immer wieder wurden Notaufnahmen in den letzten Monaten wegen Überlastung bei der Feuerwehr abgemeldet. Pflegekräfte, Sanitäter und Ärzte warnten vor lebensbedrohlicher Personalnot.

Wie will der Senat bei so ungenauen Zahlen die Arbeit in den Rettungsstellen beurteilen?

CDU-Gesundheitspolitiker Christian Gräff

Keine Angaben machte Staatssekretär Götz darüber, welche Notaufnahme wie viele Fälle versorgte. Für die Jahre 2011 bis 2021 wird bloß eine anonymisierte Spannbreite angegeben. So ist im Präpandemiejahr 2019 von 3200 bis 86.000 Fällen die Rede. Das bedeutet, dass die größte Notaufnahme rund 25-mal so viele Patienten versorgte wie die am wenigsten genutzte. Grünen-Politiker Götz schreibt: „Bei den angefragten krankenhaus- und einrichtungsbezogenen Daten handelt es sich um geschützte Unternehmensdaten, für deren Weitergabe eine gesetzliche Grundlage benötigt wird, welche nicht besteht.“

Dass der Senat auf Wettbewerbsgründe verweist, erstaunt Ärzte, schließlich beziehen landeseigene, private, gemeinnützige oder konfessionelle Kliniken gleichermaßen öffentliche Gelder für Bauten und Technik. Auch Oppositionspolitiker Gräff fragt: „Wie will der Senat bei so ungenauen Zahlen eigentlich die Effizienz der einzelnen Rettungsstellen bewerten? Zumal die Unterschiede in Berlin beachtlich sind.“

Unter Ärzten ist bekannt, dass die am häufigsten frequentierten Rettungsstellen zu den landeseigenen Vivantes-Kliniken in Friedrichshain und Neukölln sowie dem Charité-Campus in Wedding gehören. Insgesamt versorgten im Jahr 2019 die damals 38 Notaufnahmen Berlins fast 1,29 Millionen Fälle. Die Corona-Maßnahmen ab 2020 führten zu weniger Verkehr, ruhenden Betrieben und erlahmtem Nachtleben, weshalb es zu weniger Unfällen kam, die Anzahl der Rettungsstellen-Patienten sank 2021 auf knapp 916.000.

Derzeit gibt es in Berlin 37 Notfallkrankenhäuser: Die Rettungsstelle der Vivantes-Wenckebach-Klinik wurde im September geschlossen, weil das Haus – grob vereinfacht formuliert – mit dem nahen Auguste-Viktoria-Klinikum zusammengelegt wurde. Ins Wenckebach soll der gemeinsame Pflege-Ausbildungscampus von Charité und Vivantes einziehen.

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