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Liebeskolumne

© Montage: Tagesspiegel | privat (2), Robert Ide (2)

Eine Liebe im Holocaust: Wie Franklin in Berlin nach den Spuren seiner Familie sucht

Anna und Hans lernen sich kurz vor der Machtergreifung der Nazis kennen. Er wird deportiert, sie überlebt. Jetzt will ihr gemeinsamer Sohn erfahren, auf welcher Liebe sein Leben basiert.

Viele seiner 88 Lebensjahre lang hat Franklin nach Gedankenfetzen gesucht, nach entfernten Erzählungen oder möglichen Erklärungen. Doch alles ist ausgelöscht. Wie sein Vater ausgelöscht wurde, als Franklin noch ein kleiner Junge war und sich mit seiner Mutter und seiner Schwester in Berlin versteckte. Vor dem Krieg vor der Wohnungstür und vor dem Terror der Nachbarn in Uniform, die seinen Vater mitgenommen hatten für immer.

„Ich hatte keine Kindheit. Ich hatte keinen Vater“, sagt Franklin und hält kurz inne. „Zumindest kann ich mich nicht an ihn erinnern.“

Der Stolperstein heißt: Er hat gelebt

Hans Lewinsohn. Geboren 1899. Verhaftet am 5. 12. 1942 durch die Gestapo. Deportiert am 8. 3. 1943 ins KZ Auschwitz. Ermordet 1943. So steht es geschrieben auf dem neuen Stolperstein, verlegt an der Singerstraße in Berlin-Friedrichshain.

Bei der Zeremonie singt die Rabbinerin Trauerlieder zum Gedenken, Franklin ist noch Tage später bewegt. Fast weint er, als er sagt: „Es ist so wichtig, dass die Erinnerung an meinen Vater zu sehen ist auf den Straßen von Berlin.“ Denn das heißt: Sie lebt. Er hat gelebt.

Der Stolperstein für Hans Lewinsohn in der Singerstraße in Berlin-Friedrichshain.
Der Stolperstein für Hans Lewinsohn in der Singerstraße in Berlin-Friedrichshain.

© privat

Mehr als sechs Millionen Juden haben die Deutschen im Rassenwahn umbringen lassen oder selbst umgebracht, davon vier Millionen in Konzentrations- und Vernichtungslagern. Als Franklin kurz nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten geboren wird, ist er einer von 170.000 jüdischen Mitbürgerinnen und Mitbürgern in Berlin. Zum Kriegsende sind es weniger als 7000. Wie viele Väter, Mütter, Familien von nebenan verschwanden für immer, wurden verjagt, verschleppt, industriell ermordet? Wie viele Lieben wurden zerstört, an die sich kaum jemand noch erinnern kann?

Franklin Lewinson ist mit seiner Frau Betsy aus Amerika angereist. Erst wollte er nicht hierherkommen, weil er Befürchtungen hatte, dass ihn das zu sehr mitnimmt: die Spuren der Liebe seiner Eltern zu suchen, die ihm sein Leben schenkten und denen hier ihr gemeinsames Leben genommen wurde.

Franklin Lewinsohn hat nur ein Foto als Erinnerung an seinen Vater.
Franklin Lewinsohn hat nur ein Foto als Erinnerung an seinen Vater.

© Robert Ide

Das Reden über den Holocaust auf dem Pflaster seiner Geburtsstadt fällt ihm schwer. Betsy, die mit ihm Hand in Hand in der Lobby des Hotels sitzt, in dem sie untergekommen sind, hilft ihm etwas beim Erzählen. Sie will ihn nicht allein lassen mit seiner Geschichte.

Anna konvertierte vor der Hochzeit zum Judentum

Viele seiner 88 Lebensjahre lang hat Franklin versucht herauszufinden, auf welcher Liebe sein Leben basiert. Sein Vater Hans war Banker, bis er entlassen wurde, weil er Jude war. Als er eines Abends nicht mehr nach Hause kam, war Franklin sieben, seine Schwester fünf.

Seine Mutter Anna, die kurz vor der Machtergreifung der Nazis vom Katholizismus zum Judentum konvertiert war, hatte den alleinstehenden Hans in der Synagoge an der Oranienburger Straße kennengelernt und in der Jüdischen Gemeinde geheiratet. Sie erzählte fortan wenig von ihm – vielleicht, um die Kinder nicht mit allzu viel Wissen zu gefährden, vielleicht um sich selbst zu schützen vor der zur Gewissheit werdenden Ungewissheit.

Öffnet niemals die Tür! Geht niemals ans Fenster, weil man Euch von der Straße aus sehen kann!

Anna schärft den Kindern ein, sich in der Wohnung zu verstecken, wenn sie das Haus verlässt

Im Krieg arbeitet Anna noch unter ihrem alten Mädchennamen als Sekretärin bei einem Rechtsanwalt; er deckt sie, obwohl er weiß, dass sie jüdisch ist. Aus ihrer Wohnung in Tempelhof fliegen sie raus, als sie ein Nazi-Offizier in Anspruch nimmt. Fortan leben sie Tag und Nacht in Angst.

Frank und Anna lernen sich vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in der Jüdischen Gemeinde von Berlin kennen.
Frank und Anna lernen sich vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten in der Jüdischen Gemeinde von Berlin kennen.

© Robert Ide

Anna und die beiden Kinder kommen in einem Erdgeschoss in Friedrichshain unter. Wenn die Mutter zur Arbeit geht und danach abends die Lebensmittelreste einkauft, die Juden übrig gelassen worden sind, bleibt Franklin mit seiner Schwester allein zu Hause. Die Mutter schärft ihnen ein: „Öffnet niemals die Tür! Geht niemals ans Fenster, weil man Euch von der Straße aus sehen kann!“

Die meiste Zeit verbringt Franklin mit seiner Schwester kauernd unterm Bett, weitere Erinnerungen daran hat er nicht. Im Haus befindet sich die Werkstatt eines Blechschmieds, der eine Fluchttür zu der Erdgeschosswohnung hat. Im Notfall, so verspricht er es der Mutter, holt er die Kinder raus.

Die Sowjetsoldaten glauben ihnen nicht, dass sie als Juden überlebt haben

Draußen rückt der Krieg nach Deutschland zurück. Nach einer schlimmen Bombennacht flüchtet Mutter Anna mit den beiden Kindern zu einer Verwandten vor die Tore der Stadt. Auf dem Feld geht Franklin mit einer Cousine Kartoffeln einsammeln, die der Bauer beim Ernten liegengelassen hat. Doch auf dem Hof leben schon viele Kinder, es ist nicht genug Essen für alle da.

Also marschiert Anna mit den beiden Kindern zurück nach Berlin, sie flüchten sich vor den Bomben in einen U-Bahn-Schacht. Bis die Sowjetarmee kommt und die Soldaten viele Frauen mitnehmen und viele Männer erschießen. Auch Franklins Familie soll dran glauben; die Sowjets können einfach nicht glauben, dass es noch überlebende Juden in Berlin geben soll. „Ich musste meine Hose ausziehen, um meine Beschneidung zu zeigen“, erzählt Franklin, der diese Erinnerung nie vergessen hat.

In seinem Portmonee bewahrt Franklin ein Bild von seiner Mutter und seiner Schwester.
In seinem Portmonee bewahrt Franklin ein Bild von seiner Mutter und seiner Schwester.

© Robert Ide

Das neue Leben erkämpfen sie sich hart. Nach Kriegsende verraten jüdische Sowjetsoldaten der Mutter, dass die Stadt geteilt werden solle. Amerikanische Juden helfen ihr, mit den Kindern im amerikanischen Sektor unterzukommen, lotsen sie zurück nach Tempelhof.

Von hier aus geht es weiter nach Bremerhaven, wo Anna und die Kinder auf ein amerikanisches Kriegsschiff kommen, das Überlebende des Holocaust nach New York bringt. Zehn bibbernde Tage lang setzen sie im November 1946 über den Ozean. „Mit elf Jahren fing für mich ein neues Leben an“, sagt Franklin. „Mein altes Leben gab es danach kaum noch. Meine Mutter redete nicht mehr darüber.“

Ganz selten nur meldet sich die Erinnerung zurück. Etwa als Franklin später als Banker arbeitet und ihm seine Mutter berichtet, dass sein Vater das ja auch gewesen sei. Oder als seine Schwester ein altes Foto ausfindig macht vom Vater, das Franklin seitdem aufbewahrt – als einzigen bleibenden Gegenstand von ihm. Als plötzlich eine deutsche Cousine in Amerika zu Besuch kommt, die nach dem Krieg in der DDR geblieben war und dort einen ehemaligen Nazi-Offizier geheiratet hatte, lässt Anna sie ins Haus, ihn nicht.

Bis sich Franklin die Frage stellt, warum seine Mutter, die zunächst in einer Gürtelfabrik arbeitet und später anderen jüdischen Immigranten bei der Erledigung der Einreisepapiere hilft, nie wieder mit einem anderen Mann zusammenkommt. Bis er in New Jersey schließlich Betsy kennenlernt, die als Witwe drei Kinder großzieht – und sie sich nach seiner Familiengeschichte erkundigt. Heute leben beide in Pennsylvania.

Franklin ist mit seiner Frau Betsy auf Spurensuche in Berlin.
Franklin ist mit seiner Frau Betsy auf Spurensuche in Berlin.

© Robert Ide

Auf einmal bekommt er Post aus Deutschland von einem ihm unbekannten Großcousin aus Berlin, der bei der Familienforschung auf seine unerforschte Geschichte gestoßen ist. Der regt schließlich an, einen Stolperstein für Franklins Vater am früheren Wohnhaus der zerstörten Familie zu verlegen. Nun also kann die Erinnerung leben.

Franklin Lewinsohn bei der Stolperstein-Verlegung für seinen Vater.
Franklin Lewinsohn bei der Stolperstein-Verlegung für seinen Vater.

© privat

Franklin sitzt mit Betsy in der Lobby eines Berliner Hotels. Er erzählt von der Zeremonie und vom Wiedersehen mit seiner Cousine am früheren Bauernhaus vor den Toren der Stadt. „Weißt Du noch, wir beide auf den Kartoffelfeldern?“, fragt sie ihn. Er schwärmt davon, wie weltoffen Berlin heute sei, aber dass er auch nie habe zurückkommen wollen. „Ich bin ein Berliner“, diesen Satz kann er noch auf Deutsch sagen.

Ihn bewegt, dass heute die Menschen in Kiew in den U-Bahn-Schächten ausharren und dass Steine der Erinnerung auf dem Pflaster von Berlin verlegt werden. „Freiheit ist für die Menschen das Wichtigste“, findet Franklin.

Seine Freiheit hat er in Berlin nicht gefunden. Als elfjähriger Junge spürt er sie zum ersten Mal in einem Hotel in New York, in dem die Flüchtlinge untergebracht werden. „Ich bin in einen Fahrstuhl gestiegen und pausenlos hoch- und runtergefahren“, erinnert sich Franklin. „Meine Mutter hatte gut zu tun, mich wieder einzufangen.“ Sie lachte, so erinnert er sich, so befreit wie selten.

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