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Bei Wikipedia wird seit dem 7. Oktober hart um die Deutungshoheit über die Gewalt in Israel und Gaza gerungen. 

© Bearbeitung: Tagesspiegel/Getty Images/iStockphoto; Wikipedia

Nahost-Diskussionen auf Wikipedia: Krieg um die Begriffe

Bei Wikipedia wird seit dem 7. Oktober hart um die Deutungshoheit über die Gewalt in Israel und Gaza gerungen. Autoren versuchen, Ideologen draußen zu halten. Das klappt erstaunlich gut.

Eine Kolumne von Sebastian Leber

In der Nacht zu Freitag greift „Jayen466“ ein. Er hat noch einen Rechtschreibfehler gefunden: In der Formulierung „laut einer US-amerikanische Krankenschwester“ fehlt ein „n“. Dieses möchte er jetzt hinzufügen, frühmorgens um 2.59 Uhr. Niemand widerspricht dem Nutzer. Es ist die 193. Änderung des Artikels allein in dieser Woche. Und ja, ich habe nachgezählt.

Seit den Terroranschlägen der Hamas am 7. Oktober wird im Netz hitzig gestritten. Neben Betroffenheit und Mitgefühl für die Opfer sowie Wut auf die Täter liest man auch allerlei antiisraelische und antijüdische Hetze. Überspitzte Meinungen lassen sich oft kaum von Verschwörungsunsinn und bewusster Desinformation unterscheiden. Es werden Tote verhöhnt, Gräueltaten geleugnet oder als Teil eines „Freiheitskampfs“ umgedeutet.

Wie kann es trotz dieses Informationswirrwarrs gelingen, einen sachlichen Lexikoneintrag über die Ereignisse zu verfassen, an dem theoretisch jeder jederzeit mitschreiben darf? Beim größten Mitmachprojekt der Menschheitsgeschichte: auf Wikipedia?

Es gelingt erstaunlich gut. Der Artikel heißt „Krieg in Israel und Gaza 2023“ und ist mittlerweile 67.000 Zeichen lang, ohne die Fußnoten, das entspricht etwa 37 DIN-A4-Seiten. Wobei zur eigentlichen Terrorwelle am 7. Oktober noch ein gesonderter Artikel von weiteren 43 DIN-A4-Seiten existiert. Alles in nüchternem Tonfall gehalten, akkurat beschrieben, auf seriöse Quellen gestützt.

Fehler können sofort korrigiert werden

Man wundert sich, dass so etwas möglich ist, in diesem Internet. Zumal es ja noch immer die Vorstellung gibt, Wikipedia sei weniger vertrauenswürdig als eine herkömmliche, von bezahlten Experten verfasste Enzyklopädie. Warum das Quatsch ist, haben mir Wikipedia-Autoren vor Jahren einmal so erklärt: Im klassischen Lexikonverlag wurden die Einträge von Fachautoren geschrieben. Jeder Texthappen wurde von einem Redakteur gegengelesen, ein Rechtschreibkorrektor guckte drauf, zum Schluss der Setzer. Das Acht-Augen-Prinzip.

Wenn jemand in der Wikipedia einen Fehler einbaut und die Stelle anschließend 100.000 Nutzer lesen, dann reicht es völlig, wenn 1000 von ihnen den Fehler bemerken, 100 denken, das sollte man korrigieren, und einer es am Ende tatsächlich tut. Jayen466 zum Beispiel, der nachts um 2.59 Uhr das fehlende „n“ hinzugefügt hat.

Die Diskussionen lassen sich nachlesen

Während bei der Korrektur von Rechtschreibfehlern meistens Einigkeit herrscht, wird um Inhalte hart gerungen. Ganz besonders beim Thema Nahost. Man kann das nachlesen auf einer Unterseite, die sich bei jedem Wikipedia-Artikel links oben über den Button „Diskussion“ aufrufen lässt. Hier ist transparent dokumentiert, welche Energie die Autoren in den vergangenen Wochen aufbringen mussten, um Ideologen, Wahrheitsverdreher und Trolle draußen zu halten.

Am 11. Oktober, vier Tage nach den Anschlägen, mahnt etwa Nutzer „Nik“, dem Artikel fehle ein „Bild von den israelischen Zerstörungen in Gaza, die unglaubliche Ausmaße angenommen haben“, und bindet gleich selbst eines ein. Das bleibt jedoch nicht lange stehen. Andere Nutzer finden schnell heraus, dass es erstens Urheberrechte verletzt und zweitens nicht, wie von Nik behauptet, den Einsatz von Phosphorbomben zeigt. Nik verteidigt sich: Er habe nicht absichtlich Fake News verbreiten wollen, es habe sich lediglich um eine „vorschnelle Privattheorie von mir ohne Beleg“ gehandelt.

Sollte Nik noch einmal bei Ähnlichem ertappt werden, kann sein Account gesperrt werden.

Das Ringen um größtmögliche Neutralität ist mühsam und manchmal geradezu schmerzhaft. Der Satz „Der Kommandeur der Kassam-Brigaden behauptete, der Angriff sei eine Reaktion auf die ,Schändung der al-Aqsa-Moschee’ in Jerusalem“ wird etwa gerügt, weil das Wort „behauptet“ zu wertend sei – auch wenn sich die Diskutanten einig sind, dass die Aussage des Kommandeurs pure Propaganda ist. Aus „behauptet“ wird schließlich „sagt“.

Vor ein paar Jahren war es schwer in Mode, von „Schwarmintelligenzen“ zu schwärmen, wie später von Krypto und Blockchain und dann von KI. Der Begriff ist leider ein bisschen in Vergessenheit geraten, aber Beispiele wie dieses zeigen: Der Schwarm lebt, und er ist sehr intelligent.

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