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Gefahrenzone Schule. Immer wieder gibt es Proteste, um auf die Attacken hinzuweisen.

© IMAGO/NurPhoto/IMAGO/Allison Bailey

5000 vergiftete Mädchen im Iran: Die Angriffe hören nicht auf – es gibt sie fast jeden Tag

Hustenanfälle, Atemnot, Schwindel – fast täglich gibt es Giftgasangriffe auf Mädchenschulen, 5000 Kinder und Jugendliche mussten schon behandelt werden. Was und wer steckt dahinter?

Vor einer Mädchenschule in Isfahan, einer Stadt im Westen des Irans, Mitte April. Dutzende Menschen haben sich versammelt. Sie sind aufgebracht. Schülerinnen sitzen auf dem Asphalt. Die Ranzen neben sich abgelegt, halten sie hustend ihre Hände vor den Mund, ringen nach Luft. Lautes Stimmengewirr ist im Hintergrund zu hören, viele Mädchen laufen panisch umher.

Vor einer halben Stunde, sagt eine von ihnen in einem Handyvideo, seien sie mit Giftgas angegriffen worden. „Doch die Rektorin hat die Türen verschlossen und uns nicht herausgelassen.“ Eine andere in den sozialen Medien verbreitete Aufnahme zeigt sichtlich aufgebrachte Eltern vor einem Schultor. Eine Mutter ruft: „Ihr werdet nicht aufhören, bis alle Kinder tot sind!“ 

Dramatische Szenen wie diese spielen sich seit November in zahlreichen Städten der Islamischen Republik fast täglich ab. Erst jüngst mussten Dutzende Mädchen im Nordwesten des Landes wegen Atemnot, Übelkeit und Schwindel behandelt werden.

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Das iranische Menschenrechtsbündnis 1500tasvir lädt regelmäßig Videos hoch, um über die offenkundig gezielten Anschläge zu informieren, deren Opfer oft mit Vergiftungserscheinungen in Krankenhäuser eingeliefert werden müssen. Offiziellen Angaben zufolge gehen die Behörden inzwischen von mehr als 5000 vergifteten Schülerinnen und 13.000 Verdachtsfällen aus.

5000
Schulmädchen sollen Angaben der Behörden nach bislang vergiftet worden sein.

Die Wut der Eltern ist groß. So versammelten sich am 15. April in Shahin Shahr, Hauptstadt der Provinz Isfahan, Mütter und Väter vor dem regionalen Bildungsministerium. Sie forderten lautstark einen besseren Schutz für ihre Kinder und warfen den Behörden mangelnden Aufklärungswillen vor. Sicherheitskräfte sollen Berichten zufolge Tränengas gegen die Demonstrantinnen und Demonstranten eingesetzt haben.

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Anfang März veröffentlichten 20 prominente iranische Menschenrechtsanwältinnen und -anwälte einen Brief an UN-Organisationen, in dem sie die Vereinten Nationen auffordern, eine internationale Untersuchungskommission einzusetzen. Das sei „aufgrund der Unfähigkeit – oder des Unwillens – der iranischen Regierung, die Giftgasangriffe auf Schulmädchen zu stoppen“, dringend erforderlich, sagt Hadi Ghaemi, Geschäftsführer des Center for Human Rights in Iran (CHRI).

Welche Rolle spielt die Mullah-Regierung?

Die Juristinnen und Juristen werfen den Herrschenden vor, es gehe ihnen darum, Mädchen und Frauen zu bestrafen, die angeblich die „islamischen Werte“ schwächten, weil sie das Kopftuch ablegten. Der Vater eines Mädchens mit Vergiftungserscheinungen sagt in einem Video, was viele Iranerinnen und Iraner denken: „Schaut euch meine Tochter an, wie es ihr geht. Statt Kameras für das Kopftuch einzusetzen, solltet ihr Kameras in den Schulen platzieren.“

Statt Kameras für das Kopftuch einzusetzen, solltet ihr Kameras in den Schulen platzieren.

Vater eines vergifteten Mädchens

Auch die Aktivistin Daniela Sepehri bezweifelt, dass die Täter in einem Überwachungsstaat wie dem Iran unentdeckt bleiben könnten. „Dass dieses Regime es nicht schaffen soll, die Verantwortlichen ausfindig zu machen, kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen.“ Sepehri geht deshalb davon aus, dass die Machthaber hinter den Anschlägen stecken oder diese zumindest tolerieren.

„Koordinierte Kampagne, um Schülerinnen zu bestrafen“

Die Giftgasattacken seien ein Racheakt für die seit dem Tod von Jina Mahsa Amini im September landesweiten Proteste, die vor allem von Schülerinnen und Frauen an Universitäten getragen werden, sagt Sepehri. „Es sind Einschüchterungsversuche, um die weibliche Bevölkerung von Bildung fernzuhalten.“

Zu einer ähnlichen Einschätzung kommt die Menschenrechtsorganisation Amnesty International. „Die Vergiftungen scheinen eine koordinierte Kampagne zu sein, um Schülerinnen für ihre friedliche Teilnahme an landesweiten Protesten zu bestrafen“, heißt es in einer Mitteilung.

Dass dieses Regime es nicht schaffen soll, die Verantwortlichen ausfindig zu machen, kann ich mir nun wirklich nicht vorstellen.

Daniela Sepehri, iranische Aktivistin

Frauenfeindliche Attacken von Fanatikern hat es bereits in der Vergangenheit gegeben. Zum Beispiel schreckte 2014 das Land eine Serie von Säureangriffen gegen Frauen auf, die mit den strengen Kleidervorschriften lockerer umgegangen waren.

Verdacht liegt auch auf ideologischen Hardlinern

Iran-Experte Cornelius Adebahr ist bei der Schuldzuweisung der aktuellen Anschläge etwas zurückhaltender. Er verweist darauf, dass vieles noch unklar sei. Es gebe bislang kein plausibles Muster für die Angriffe.

Auch über das Warum sei wenig Substanzielles bekannt. Dem Regime müsse man zwar alles zutrauen, sagte Adebahr. Aber Irans oberster Führer, Ajatollah Ali Chamenei, spreche inzwischen auch von „unverzeihlichen Verbrechen“, die rasch aufgeklärt werden müssten.

Irans Revolutionsführer Ayatollah Ali Chamenei will die strikte Kopftuchpflicht durchsetzen.
Irans Revolutionsführer Ayatollah Ali Chamenei will die strikte Kopftuchpflicht durchsetzen.

© IMAGO/ZUMA Wire/Iranian Supreme Leader S Office

„Das ist ein sehr deutliches Signal, dass es vermutlich keine Anweisung von ganz oben gibt“, sagt der Mitarbeiter der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik.

Es gibt bislang kein plausibles Muster für die Angriffe.

Cornelius Adebahr, Iran-Experte

Adebahr hält es für nicht ausgeschlossen, dass militante islamistische Kräfte aus eigenem Antrieb Mädchen und Frauen wegen ihrer Beteiligung an den Protesten bestrafen wollen. „Allerdings haben diese ideologischen Hardliner nun nicht mehr die Rückendeckung der Führung des Regimes.“

Der tatsächliche oder angebliche Aufklärungswillen der Behörden machte sich erst spät bemerkbar. Lange Zeit schwieg die Regierung zu den Vorfällen. Dann bezichtigte Präsident Ebrahim Raisi zunächst „ausländische Feinde“. Gemeint sind damit in der Regel die USA und Israel.

Erst Anfang März schaltete sich Chamenei als mächtigster Mann im Staat in die Debatte ein und forderte harte Strafen. Danach versicherten verschiedene Minister, alles daranzusetzen, der Täter habhaft zu werden. Vor ein paar Wochen gab es Festnahmen in fünf Provinzen. Weitere Details wurden nicht bekanntgegeben. Doch Anschläge gibt es nach wie vor. Fast jeden Tag.

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