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Proteste in Eriwan am 22. September 2023.

© IMAGO/ITAR-TASS

„Die ganze Welt hat uns im Stich gelassen“: Armenier protestieren nach Verlust von Berg-Karabach

Tausende haben in der armenischen Hauptstadt gegen den Ministerpräsidenten protestiert. Er weigerte sich, die Armee nach Berg-Karabach zu schicken, nachdem Aserbaidschan angegriffen hatte.

„Arzach! Arzach!“: Der armenische Name für Berg-Karabach hallt durch die Straßen Eriwans. Tausende Armenierinnen und Armenier hat die Wut, die Angst und der Schock nach dem plötzlichen Sieg Aserbaidschans in der umstrittenen Kaukasus-Region an diesem Donnerstagabend in das Zentrum der armenischen Hauptstadt getrieben.

Hier protestieren sie in kleinen Gruppen, einige in Fahnen von Berg-Karabach gehüllt, um den Rücktritt des armenischen Ministerpräsidenten Nikol Paschinjan zu fordern.

Wir haben ein gebrochenes Herz“, sagt die 26-jährige Victoria, die ihren Nachnamen nicht nennen will. Es sei doch möglich, einen humanitären Korridor zu bilden, den Menschen zu helfen, zumindest die Kinder zu evakuieren. „Es ist möglich“, wiederholt die junge Frau, die eine kleine Fahne Berg-Karabachs in der Hand hält.

Vor allem „fordern wir von unserer Regierung, ihrem Volk zu helfen“, sagt Victoria. Paschinjan weigerte sich, angesichts des reicheren und besser bewaffneten Feindes Aserbaidschan die armenische Armee zur Unterstützung der pro-armenischen Kämpfer in Berg-Karabach zu schicken. Er ist für die 26-jährige Victoria ein „Verräter“.

Diese Meinung teilt sie mit anderen Demonstranten, viele von ihnen junge Leute, die dem reformorientieren Regierungschef im Jahr 2018 nach einer friedlichen Revolution ins Amt geholfen hatten. Auf dem Platz der Republik, dem traditionellen Ort für Proteste in Eriwan, ist die Verzweiflung groß.

Am Dienstag hatte Aserbaidschan die umkämpfte und überwiegend von Armeniern bewohnte Region Berg-Karabach angegriffen, die schon 2020 Schauplatz brutaler Kämpfe war. Diese endeten damals mit einem von Russland vermittelten Waffenstillstandsabkommen, das Armenien zur Aufgabe großer Gebiete zwang.

Aserbaidschan soll Berg-Karabach bekommen

Nun, nach nur 24 Stunden Kämpfe, legten die örtlichen pro-armenischen Behörden am Mittwoch die Waffen nieder. Am Donnerstag begannen unter der Vermittlung Moskaus die Verhandlungen mit Aserbaidschan über die Eingliederung Berg-Karabachs in das Land.

Das Schicksal der armenischen Bewohner, die bereits seit Dezember 2022 unter einer Blockade durch Aserbaidschan litten und die nur tröpfchenweise humanitäre Hilfe erreichte, ist das zentrale Thema der Protestteilnehmer auf dem Platz der Republik in Eriwan.

In den Onlinenetzwerken machen düstere Gerüchte über enthauptete Kinder und erschossene Zivilisten die Runden. Das Wort „Genozid“ ist in aller Munde.

„Sie haben Hunger, sie haben kein fließendes Wasser, kein Licht, sie haben kein Dach mehr über dem Kopf. Das sind Armenier, wir sind ein einziges Volk und wir sollten zusammen sein, Punkt“, sagt der 32-jährige Koch David Wartanian, bevor er eine Beleidigung gegen Paschinjan vom Stapel lässt. Wenn der Ministerpräsident erst einmal nicht mehr im Amt sei, könnte gekämpft werden.

Doch viele hier räumen ein, dass ein Sieg gegen das von der Türkei militärisch unterstützte Aserbaidschan unrealistisch zu sein scheint. Die Demonstrierenden beschuldigen Russland – den langjährigen Verbündeten, dessen Hilfe aber nie kam. Sie machen auch der Europäischen Union Vorwürfe, die sich auf Aserbaidschan als Gaslieferanten stützt.

„Wir wissen nicht, was wir tun sollen“, sagt die Anwältin Angela Adamian mit Tränen in den Augen. „Wir haben keine Freunde. Niemand will uns retten, wir haben keine ausreichend starke Armee, wir haben keinerlei Unterstützung. Wir sind allein, die ganze Welt hat uns im Stich gelassen“, fährt sie fort. „Wir haben Angst, dass dies das Ende für unsere Nation bedeutet, weil wir wissen, dass Aserbaidschan nicht hier aufhören wollen wird.“ (AFP)

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