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Ein ukrainischer Fotograf macht Aufnahmen von Soldaten in der südlichen Region Cherson.

© AFP/Dimitar Dilkoff

Einflussreicher Kriegs-Think-Tank ISW: Die harsche Kritik an den US-Experten – und warum sie schwer zu belegen ist

Die US-Denkfabrik „Institute for the Study of War“ ist eine der wichtigsten Quellen öffentlicher Informationen im Ukraine-Krieg. Doch mehrere umstrittene Einschätzungen sorgen nun für Kritik.

Die Drohnenaufnahmen sind nur wenige Sekunden lang und zeigen jeweils ein mehrstöckiges Haus mit rotem Dach, um das Soldaten in Uniform herumlaufen. Ein zerstörtes Haus nebenan deutet darauf hin, dass hier vor nicht allzu langer Zeit Kampfhandlungen stattgefunden haben.

Die Soldaten scheinen nicht in Eile zu sein, schlendern fast. Auf dem zweiten Video läuft ein Soldat eine lange Treppe außen am Haus hinauf.

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Der Mann, der die Drohnenaufnahmen auf Twitter am vergangenen Wochenende postete, ist George Barros, Analyst der US-Denkfabrik „Institute for the Study of War“ (ISW). Er und seine Kollegen sind die momentan einflussreichsten Lieferanten von öffentlichen Informationen im Ukraine-Krieg, werden von nahezu allen internationalen Medien zitiert.

Der Grund, warum Barros, dem auf Twitter mehr als 20.000 Nutzer folgen, die Videos und einige Erklärungen dazu postete, ist in erster Linie Information. Allerdings ist auch ein wenig Rechtfertigung herauszulesen.

„Ihr Verhalten legt nahe, dass sich die Ukrainer nicht auf einer Aufklärungsmission befinden“, schreibt Barros. Das Bildmaterial unterstützte die Einschätzung des ISW, dass die ukrainischen Kräfte eine andauernde Präsenz am Ostufer des Dnipro in der Region Cherson aufgebaut hätten, so Barros weiter. Daran hatten Experten gezweifelt – und harsche Kritik am ISW geübt.

Angefangen hatte die Kritikwelle mit einer detailgetreuen Karte der Situation am Fluss Dnipro. Auf dieser Karte hatte das ISW ein mehrere Quadratkilometer großes Areal westlich der Antoniwkabrücke den Ukrainern zugeschrieben. Ein Landstrich, der sehr wohl bebaut ist, aber größtenteils aus sumpfigen Gebiet besteht.

Die Karte sollte zeigen, dass die Ukrainer in dieser Gegend „präsent“ sind, schrieb das ISW im täglichen Update am 23. April. Das bedeutete letztlich, dass sie dorthin mit dem Boot über den Dnipro fuhren und Aufklärungsmissionen betrieben. Einige Soldaten sollen aber auch dauerhaft auf der Ostseite des Flusses geblieben sein, befand das ISW.

Gegenwind für das ISW von reichweitenstarken Experten

Von einer Einnahme oder einem Brückenkopf, wie es von manchen gedeutet wurde, konnte allerdings keine Rede sein. Dort massenhaft Soldaten und Equipment hinzuschaffen, um eine Offensive zu starten, halten Experten für unmöglich.

Nathan Ruser, Wissenschaftler am „International Cyber Policy Centre“, nannte die Einschätzung des ISW zum Ostufer des Dnipro „wiederholt inkorrekt“. Seine Worte haben insofern Gewicht, als dass sogar der renommierte Militärexperte Michael Kofman seine Kritik am ISW auf Twitter teilte und als „konstruktiv“ bezeichnete. Ruser hat fast 120.000 Follower auf Twitter, Kofman sogar mehr als 400.000.

„Es gibt absolut keine Beweise dafür, dass die Ukraine einen Brückenkopf auf der anderen Seite des Dnipro kontrolliert oder überhaupt dort präsent ist“, schrieb Ruser. Das eingezeichnete Areal suggeriere, dass die Ukrainer Stellungen hielten, die vorher von Russen besetzt waren.

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ISW-Analyst Barros reagierte umgehend auf die Kritik und erklärte seine Sicht. Aufgrund von mehreren Berichten russischer Militärblogger habe das ISW allen Grund zur Annahme, dass sich die Ukrainer bereits seit Wochen in dem Gebiet östlich des Dnipro befänden und sogar stabile Versorgungsrouten eingerichtet hätten.

Einen Tag, nachdem das ISW auch geolokalisiertes Bildmaterial geprüft habe, sei die Entscheidung gefallen, den Ukrainern das Gebiet westlich der Antoniwkabrücke zuzuschreiben. Eine Einschätzung, die sich später als richtig herausstellen sollte.

ISW lehnt sich mit „False Flag“-Vorwurf weit aus dem Fenster

Allerdings war das nur der Anfang der Kritik am ISW. Zwei Wochen später schlugen zwei Drohnen ins Dach des Kreml ein. Auch hier war die Informationslage undurchsichtig, das Gesamtbild unklar.

Trotzdem lehnten sich die Analysten des ISW auch hier recht weit aus dem Fenster, indem sie aus den ihnen vorliegenden öffentlichen Informationen und Hintergrundinfos erstaunlich präzise Schlüsse zogen. Sie lassen in ihren Berichten bis heute wenig Raum für Zweifel daran, dass Russland die Drohnenangriffe selbst verantworte, demnach eine sogenannte „False Flag“-Operation durchgeführt habe.

„Das ist nur ein Verdacht, und trotzdem wird das von vielen Journalisten als Fakt genommen werden“, schrieb Nathan Ruser hierzu. Anders als nach der Debatte um die Karte des Dnipro-Ufers stieß er damit eine Grundsatzdebatte an, in der sich das ISW genötigt sah, ein Statement zu veröffentlichen.

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Die Kritik von Experten wie Ruser bezieht sich darauf, dass das ISW durch seine gestiegene Bedeutung als Informationsquelle großen Einfluss hat. „Es ist unverantwortlich, diese größtenteils unbegründeten Theorien herauszuschicken im Wissen, dass sie großen Anklang finden“, schreibt Ruser weiter. Es sei schlicht nicht die Aufgabe des ISW, solche Einschätzungen zu geben, da die große Expertise der Analysten nun mal darin liege, detailgetreue Karten zu erstellen.

Ruser ging noch weiter: „Der Druck, täglich nachrichtenstarke Einschätzungen zu liefern, scheint ihnen mittlerweile wichtiger zu sein als die Sorgfalt, ein faktenbasiertes Produkt zu liefern.“

So sieht es auch der Journalist Neil Hauer, der unter anderem für den TV-Sender CNN arbeitet. Für ihn steckt aber nicht nur das ISW, sondern auch das britische Verteidigungsministerium mit seinen täglichen Geheimdienst-Updates zur Ukraine im gleichen Dilemma. Dieses würde, wie auch das ISW, „sinnfreie Spekulationen in die Welt setzen, als wären es Fakten“, schreibt Hauer via Twitter.

Die ISW-Analysten interpretieren vorliegende Daten, um Einschätzungen zu geben – sie berichten nicht einfach nur Fakten.

US-Denkfabrik ISW

Diese Entwicklung sei darauf zurückzuführen, dass dem ISW und dem britischen Verteidigungsministerium seit einigen Wochen zeitweise die berichtenswerten Themen ausgehen, schlussfolgert Ruser: „Die Lage in der Ukraine ist an vielen Frontabschnitten festgefahren wie im ersten Weltkrieg. Die Entwicklungen auf dem Schlachtfeld sind eine zehnseitige Zusammenfassung nicht täglich wert. Deshalb kommt es zu nicht stichhaltigen Spekulationen.“

Auch auf diese Kritik reagierte das und begrüßte „die rigorose Debatte über die Angelegenheiten, die das ISW berichtet“. Die Analysten seien „dankbar für das Feedback der Leute, die sich ernsthaft mit den methodischen Herausforderungen auseinandersetzen“. Das ISW verwies in dem Statement auch auf seine „analytischen Erfolge, genauso wie auf die Grenzen“.

Durch die ausführliche, tägliche Analyse, die einem erprobten Muster folgt, sei es dem ISW möglich, vergleichsweise schnell Unstimmigkeiten und Wendepunkte zu identifizieren. „Die Fähigkeit, sich ein Urteil auf Basis eines Datensatzes zu bilden, fußt auf Monaten vorangegangenen Studiums des Sachverhalts“, schreibt das ISW. Das Ziel des ISW sei es, die Leser der Berichte zu informieren, nicht zu überzeugen, damit sie ihre eigenen Schlüsse daraus ziehen können.

Der wichtigste Punkt des Statements: „Die ISW-Analysten interpretieren vorliegende Daten, um Einschätzungen zu geben – sie berichten nicht einfach nur Fakten.“ Die Analysten würden allerdings in ihren Berichten jeweils auch die Quellenlage einschätzen, um Missverständnisse zu vermeiden. So könne es vorkommen, dass das ISW Einschätzungen abgebe, deren Quellenlage uneindeutig sei, wobei die Wichtigkeit des Sachverhalts diesen Umstand rechtfertige.

Mit letzterem Punkt spielt das ISW direkt auf die „False Flag“-Interpretation an. Stichhaltigere Beweise, wie Videos von ukrainischen Soldaten am Ostufer des Dnipro, gibt es bezüglich des Drohnenangriffs auf den Kreml noch immer nicht. Allerdings weder in die eine noch in die andere Richtung. Die Frage ist, ob sich das in diesem Fall jemals ändern wird.

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