zum Hauptinhalt
Russlands Präsident Vladimir Putin und Algeriens Präsident Abdelmadjid Tebboune beim Wirtschaftsforum in St. Petersburg 2023.

© Imago/Itar-Tass/Sergei Bobylev

Energie, Flüchtlinge, Geopolitik: Die Welt hofiert Nordafrika – aber der Maghreb ist zerrissen

Marokko, Tunesien und Algerien treiben außenpolitisch immer mehr auseinander, die EU verliert an Einfluss. Daran ist nicht nur der Westsahara-Konflikt schuld.

Ein Gastbeitrag von Rachid Ouaissa

Der Mittelmeerraum, und damit auch der Maghreb, ist ein wichtiger geopolitischer Schauplatz. Energielieferungen aus diesen Ländern, die Präsenz von terroristischen Gruppierungen, Waffen- und Drogenhandel sowie die Migrationsrouten durch diese Länder bestimmen auch die Politik in Europa.

Doch die nordafrikanischen Staaten Marokko, Tunesien und Algerien, die als Maghreb zusammengefasst werden, sind keine politische Einheit. Vielmehr streben sie derzeit außenpolitisch immer weiter auseinander. Dabei spielen verschiedene Faktoren und Interessen eine Rolle. Und auch, dass einige Staaten in der Energiekrise neues Gewicht bekommen haben.

Der Konflikt in der Ukraine hat verdeutlicht, dass sowohl Europas Energiesicherheit als auch die europäischen Pläne für eine Energiewende ohne die Beteiligung des Maghrebs nicht realisierbar sind. Algerien, ein Land reich an Gas, verfügt bereits über drei Pipelines nach Europa und treibt zwei große Projekte voran: die Trans-Sahara- Gas-Pipeline von Nigeria nach Europa und die GALSI-Pipeline nach Sardinien.

Tunesien und besonders Marokko verfügen über große Mengen an Phosphaten und positionieren sich als Schlüsselländer im Bereich erneuerbarer Energien. Darüber hinaus ist der Maghreb, inklusive der Westsahara, reich an Bodenschätzen, Mineralien und Seltenen Erden, was diese Region zu einer strategischen Zone für die Energiesicherheit Europas macht.

Marokko nutzt Migranten als Druckmittel

Allerdings beeinflusst der Konflikt um die Westsahara, diese ehemalige spanische Kolonie, auf die Marokko Anspruch erhebt, maßgeblich die geopolitische Ausrichtung von Marokko und Algerien. Marokko zögert nicht, afrikanische Migranten als Druckmittel gegenüber europäischen Staaten einzusetzen, um Unterstützung für seine Position, dass die Gebiete integraler Teil Marokkos sind, zu gewinnen.

Die Anerkennung des marokkanischen Anspruchs auf die Westsahara durch die USA im Dezember 2020 im Rahmen der Abraham Accords war ein immenser Erfolg für Rabat.

Algerien wiederum unterstützt von Beginn an die Unabhängigkeitsbewegung der Sahraouis und nutzt Gaslieferungen als politisches Druckmittel. Algier hat sogar einen langjährigen Freundschaftsvertrag mit Spanien ausgesetzt und Gaslieferungen gestoppt, als der spanische Premier Pedro Sánchez 2022 eine Kehrtwende vollzog und Marokkos Position übernahm.

Die EU hat bisher kein umfassendes Konzept für den Maghreb entwickelt.

Rachid Ouaissa, Politologe

Des Weiteren hat Algerien Russland dazu gebracht, seine neutrale Position aufzugeben und sich der algerischen Position anzuschließen.

Zudem mischen seit dem sogenannten „Arabischen Frühling“ und insbesondere seit dem Ukraine-Krieg neue externe Akteure im Maghreb mit. Während die EU und Frankreich bisher kein umfassendes Konzept für den Maghreb entwickelt haben, verlieren sie zunehmend an Einfluss zugunsten neuer regionaler Akteure wie China, der Türkei, Katar und der Vereinigten Arabischen Emirate.

Algerien orientiert sich gen Russland

Vor diesem Hintergrund und diesen veränderten Bedingungen spielen die drei nordafrikanischen Staaten ihre Karten unterschiedlich aus. Algerien, das über beträchtliche Gas- und Ölreserven verfügt, bemüht sich darum, seine Position als führende Regionalkraft wiederzuerlangen.

Gekennzeichnet durch eine blockierte innenpolitische Situation und einen Mangel an wirtschaftlicher Vision orientiert sich das Land zunehmend an China und Russland, die wichtige wirtschaftliche Partner sind, insbesondere im Bereich der Sicherheit.

Die Mitgliedschaft im Brics-Block und die Beteiligung an der Gruppe der 77, der Bewegung der Blockfreien, und die Forderung nach einer neuen multilateralen Weltordnung gehören zu den Konstanten der algerischen Außenpolitik. Algerien setzt zwar auf die Süd-Süd-Kooperation, betont jedoch die Diversifizierung der strategischen Partnerschaften.

Algerien lebt vom Erdöl- und Gasexport.

© Superbild/Superstock/Uncredited

Mit einer der größten Armeen Afrikas und als großer Waffenimporteur ist das Land ein wichtiger Partner sowohl in Sicherheitsfragen als auch in den Konflikten in Libyen, Mali und der Sahelregion. Die starke Abhängigkeit vom Öl- und Gasexport lähmt jedoch die innenpolitischen und wirtschaftlichen Reformen. Für das Land sind also militärische Angelegenheiten und Energiereichtum die wichtigsten Faktoren der Außenpolitik.

Tunis sucht Nähe zur EU

Tunesien dagegen ist als Land mit begrenzten wirtschaftlichen Ressourcen und postrevolutionärer Fragilität stark von externen Geldern abhängig. Tunesien ist stark von Nahrungsmittelimporten (vor allem Weizen) abhängig und ist damit wirtschaftlich verwundbarer als seine Nachbarn.

Obwohl das Land keine klaren außenpolitischen Präferenzen hat, sucht es verstärkt die Nähe zur EU. Mit dem Migrationsdeal versucht Tunesien, einen Vertrag mit dem IWF, dem Internationalen Währungsfonds, abzuwenden und stabile Partnerschaften mit der EU aufzubauen.

Die EU will Tunesien 130 Millionen Euro zahlen, damit es Flüchtlinge von der Überfahrt über das Mittelmeer abhält.

© Reuters/Jihed Abidellaoui

Marokko ist eng mit den USA und Israel

Marokko hat einen neuen geopolitischen Kurs eingeschlagen, der von neuen strategischen Allianzen geprägt ist, darunter die Abraham Accords mit den USA und Israel. Dies hat dazu beigetragen, das Land in der Region zu isolieren. Der Westsahara-Konflikt bleibt ein zentraler Faktor für die diplomatische Ausrichtung Marokkos.

Das Königreich setzt zudem stark auf seine wirtschaftliche und politische Präsenz in Afrika. Trotz der fragilen Wirtschaftsstrukturen hat Marokko vom Ukraine-Krieg profitiert, weil viele internationale Firmen (Automobilindustrie) ihren Sitz nach Marokko verlagert haben.

Zugleich scheinen die internen Machtverhältnisse im Palast nicht die stabilsten zu sein und die Normalisierungspolitik gegenüber Israel wird nicht von breiten Teilen der Gesellschaft getragen.

Insgesamt weisen die geopolitischen Merkmale der Maghreb-Staaten ein halbes Jahrhundert nach der Unabhängigkeit eine Vielzahl von Divergenzen auf. Die Geopolitik des Maghreb kann daher nicht als Einheit, sondern nur in Bezug auf die einzelnen Staaten verstanden werden.

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false