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Ukrainische Soldaten ziehen einen Graben in der Nähe von Bachmut.

© AFP/Yasuyoshi Chiba

„Ein Zombie-Krieg“: Ein Wagner-Kämpfer schildert, wie er ukrainische Schützengräben attackierte

Die Söldner der Privatarmee werden in selbstmörderischen Missionen auf die Stellungen der Ukrainer losgelassen. Und setzen ihnen in Bachmut empfindlich zu.

Sie kriechen durch das Niemandsland an der Front, haben häufig nicht einmal Schutzwesten an – wenn ukrainische Einheiten in direkten Kontakt mit Kämpfern der paramilitärischen Wagner-Gruppe kommen, sind diese entweder schwer verletzt oder weitaus häufiger: bereits tot.

Auf die Überlebenschancen der Söldner legt ihr Chef Jewgeni Prigoschin keinen Wert, das geht auch aus den Berichten eines 48-Jährigen hervor, die das „Wall Street Journal“ veröffentlicht hat.

Der Mann, der im März von den ukrainischen Streitkräften gefangen genommen wurde, saß zuvor wegen Mordes, Raubes und Drogendelikten in einem russischen Gefängnis. Und ist einer der zahlreichen Strafgefangenen, die Wagner von dort aus rekrutiert und in selbstmörderischen Missionen an die Front geschickt hat.

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In drei Wochen Training habe er bloß eine Fähigkeit erlernt: Wie er im Wald kriecht und sich vorwärtsbewegt. Danach habe er in einem Trupp mit anderen Strafgefangenen den Befehl bekommen, einen ukrainischen Außenposten anzugreifen. „Zwei Maschinengewehre schossen auf uns, Menschen wurden in Stücke gerissen, aber sie sagten uns immer wieder: Kriecht weiter und verschanzt euch. Das war einfach nur dumm“, berichtet der Mann.

Wenn man nicht weitermacht und tut, was einem gesagt wird, wird man einfach für null und nichtig erklärt.

Wagner-Söldner, der im März von ukrainischen Einheiten festgenommen wurde

Von der zwölfköpfigen Angriffstruppe waren am Ende noch vier kampffähig, der Rest tot. Er selbst durfte sich am Morgen danach aufgrund von Verletzungen an seinem Arm zurückziehen. Für andere schwer Verwundete kam ein Rückzug ohne Erlaubnis aber nicht in Frage, erzählt er. „Wenn man nicht weitermacht und tut, was einem gesagt wird, wird man einfach für null und nichtig erklärt“, sagte er. Das ist gleichbedeutend mit einer Exekution.

Bis zu 18 „menschliche Wellen in 24 Stunden“

Sein Bericht reiht sich ein in die brutalen Erzählungen anderer Wagner-Söldner, die auf die ukrainischen Stellungen losgelassen werden, oftmals verglichen mit „menschlichen Wellen“ – und die zu einer besonderen Bedrohung für die ukrainischen Verteidiger wurden.

 Wir können nicht auf die gleiche Weise reagieren, weil wir nicht so viel Personal haben und empfindlich auf Verluste reagieren.

 Petro Horbatenko, Bataillonskommandeur der Dritten Sturmbrigade

Der ukrainische Oberleutnant Petro Horbatenko, Bataillonskommandeur der Dritten Sturmbrigade, spricht gegenüber dem „Wall Street Journal“ von bis zu 18 menschlichen Wellen, die innerhalb von 24 Stunden einen einzigen Schützengraben an der Bachmut-Front angegriffen haben.

„Es ist ein Zombie-Krieg. Sie werfen mit Kanonenfutter nach uns, um maximalen Schaden anzurichten. Wir können natürlich nicht auf die gleiche Weise reagieren, weil wir nicht so viel Personal haben und empfindlich auf Verluste reagieren“, wird Horbatenko zitiert. Bei der Abwehr der Wellen werde zu viel Offensivpotenzial verbraucht, das sie eigentlich für eine Offensive im Frühjahr benötigen, beklagt er.

Wie die Wagner-Taktik genau funktioniert, erklärte jüngst ein Insider einem russischen Investigativ-Medium. „Was auch immer passiert, die Gruppe muss die Schusslinie erreichen“, sagte er.

Zuerst werde „Feuerkontakt“ hergestellt, danach würde erste Einheit anfangen, Schutzgräben auszuheben, um sich zu verschanzen. Wer dies übersteht, markiert die Position und gibt sie an die Artillerieeinheiten durch, die mit dem Beschuss der ukrainischen Positionen starten. Das Muster wiederhole sich so oft, bis es einer Einheit gelingt, die Schutzstellungen aufzubauen und zu sichern. 

Keine Lebensmittelversorgung an der Front

Die in den Gräben ausharrenden Einheiten würden allerdings kaum versorgt werden, erzählt wiederum der 48-jährige Gefangene aus dem Wagner-Bataillion. Sie bekämen keine Lebensmittel und müssten in den mit Trümmern gefüllten Gräben nach den Rationen der Toten suchen, um sich zu ernähren. Zudem gebe es Einheiten, die aus Hepatitis-C-Kranken und HIV-Infizierten bestünden. Die Kranken wurden anfangs nicht rekrutiert, aber das änderte sich mit zunehmendem Mangel an Soldaten auf russischer Seite.

Ukrainische Soldaten hocken im Schlamm in einem Schützengraben unter russischem Beschuss an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.
Ukrainische Soldaten hocken im Schlamm in einem Schützengraben unter russischem Beschuss an der Frontlinie in der Nähe von Bachmut.

© dpa/Libkos

Die Zahl der toten Wagner-Männer, die er in den neun Tagen vor seiner Gefangennahme sah, ging in die Hunderte, wobei die Zahl der Todesopfer, die der nicht tödlich Verwundeten überstieg, sagte er. „Wir stapelten einfach alle Leichen an einem Ort und ließen sie dort liegen, es gab keine Zeit, sich um sie zu kümmern.“

Wie die USA berichten, sollen bisher mehr als 4000 Wagner-Söldner in der Ukraine gestorben sein – davon etwa 1000 bei den Kämpfen um Bachmut. Rund 10.000 Kämpfer sollen verwundet worden sein. Die ukrainische Regierung spricht von mehreren zehntausend Toten aus den Wagner-Reihen. Bis zu 50.000 Kämpfer soll die Truppe zeitweilig umfasst haben.

Was Gefängnisinsassen wie den 48-Jährigen überhaupt dazu brachte, sich von Wagner rekrutieren zu lassen? Ihnen wurde eine Amnestie in Aussicht gestellt, wenn sie sechs Monate lang überlebten. Wer desertiere, sich ergebe oder Drogen nehme, werde hingerichtet, erklärte der Wagner-Chef Prigoschin in Ansprachen an potenzielle Rekruten.

Wie lange Prigoschin seine Taktik mit den „menschlichen Wellen“ noch aufrechterhalten kann, ist unklar. Der seit langem schwelende Konflikt zwischen Prigoschin und dem Kreml hatte wohl kürzlich dazu geführt, dass die Rekrutierung in den Gefängnissen gestoppt wurde. (Tsp)

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