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Viele Tunesier sind unzufrieden mit der wirtschaftlichen Situation und klagen über den politischen Kurs des Präsidenten.

© REUTERS/ZOUBEIR SOUISSI

Krisenstaat Tunesien: Wie sich junge Menschen einen Tag Freiheit verschaffen

Tunesien leidet unter einer schweren Wirtschaftskrise und einem autokratischen Präsidenten. Gerade junge Menschen sind frustriert – und versuchen, dem Alltag zu entfliehen.

Von Matthis Kattnig

Tunis, sieben Uhr Sonntagmorgen im Zentrum der Hauptstadt. Vor einer Tankstelle kommen Hunderte Menschen zusammen. Sie werden gleich gruppenweise mit verschiedenen Bussen in unterschiedliche Richtungen fahren, um die Natur zu erleben.

Eine dieser Gruppen heißt Lametna, auf Deutsch: „Unsere Begegnung“. Etwa 35 fast ausschließlich junge Tunesier fahren in den Nordwesten. Die Fahrt dauert mehr als drei Stunden, dann geht es in der Region Beja mit der Wanderung los. Die Gegend hier erinnert an Mitteleuropa: Berge, ein kleiner Bach, viele Blumen und sogar Pferde.

Nedra, Verwaltungs- und Finanzmanagerin einer IT-Firma, ist heute zum ersten Mal dabei. „Ich liebe die Erfahrung und möchte in Zukunft öfter mitwandern“, sagt die 30-jährige. Wassim Mokaddem war schon häufig mit der Wandergruppe unterwegs. Für ihn sei so ein Sonntag „ein Tag der Freiheit und der Ruhe, an dem man den Stress der Arbeit und des Alltags vergessen kann“, sagt der 33-jährige Arzt.

Wenn ich eine Familie hätte, würde ich lieber woanders leben.

Bessem Bousselmi, Software-Ingenieur

Denn das Leben in Tunesien ist monoton. Deshalb hatte Mokaddem einmal geplant, nach Deutschland zu gehen. Jetzt ist Frankreich möglicherweise sein neues Ziel, vor allem, weil dort die Aussichten auf einen Job besser seien.

Die junge Tunesierin Nedra hat sich zum ersten Mal der Wandergruppe angeschlossen.

© Mattis Kattnig

„Tunesien ist wunderschön, aber es gibt ein großes Problem mit unserer Wirtschaft“, sagt Bessem Bousselmi, ein anderer Teilnehmer. „Wenn ich eine Familie hätte, würde ich lieber woanders leben“, sagt der 26-jährige Software-Ingenieur. Woanders seien die Bedingungen einfach besser. Nicht so schlecht wie in Tunesien.

Im Land ist die politische Lage angespannt, seit Präsident Kais Saied das Parlament weitgehend entmachtet hat, immer willkürlicher herrscht und Oppositionelle verhaften lässt. Hinzu kommen eine hohe Inflation und niedrige Löhne.

Tausende Ingenieure verlassen jedes Jahr das Land

Der tunesischen Zeitung „Assabah“ zufolge kehren jedes Jahr 6.500 Ingenieure und 80 Prozent der Absolventen medizinischer Fakultäten ihrer Heimat den Rücken. Laut einer Umfrage denken mehr als 90 Prozent der jungen Tunesier darüber nach, in einem anderen Land ihr Glück zu suchen. 40 Prozent wären demnach auch bereit, dies auf illegalem Weg zu tun. Die Migrationszahlen über das Mittelmeer nach Europa sind seit vergangenem Jahr wieder deutlich gestiegen.

80
Prozent der Absolventen von medizinischen Fakultäten verlassen das Land

Rasta Benzema, Organisator der Gruppenfahrt, erzählt, dass Lametna fast jede Woche eine Wanderung anbietet, manchmal auch Radtouren oder Campingevents. „Das Wandern ermöglicht uns Tunesiern, mit der Natur zu kommunizieren und neue Energie zu tanken.“

Wandern hat heute einen Stellenwert wie Fußball.

Rasta Benzema, Organisator der Gruppe Lametna

Die Idee für die Wandergruppe sei mit Freunden entstanden. Mit der Zeit sei die Organisation besser und das Interesse größer geworden. „Wandern hat heute einen Stellwert wie Fußball“, sagt Benzema. Und der ist in Tunesien heilig.

Polizei und Militär müssen über die Ausflüge informiert werden

Neben Lametna sind in den vergangenen Jahren eine Reihe neuer tunesischer Wandergruppen entstanden, die sich fast jede Woche zu neuen Orten aufmachen. Gebucht werden kann die Teilnahme online über eine Buchungsplattform; auf Social-Media bewerben die Gruppen ihre Touren fleißig.

Das Organisieren der Wanderungen ist aufwendig und damit zeitintensiv. Benzema sagt, er müsse vor jedem Ausflug die Polizei informieren und Genehmigungen bei bis zu vier verschiedenen Ministerien einholen. In einigen Wandergebieten sind zum Beispiel Militäreinheiten unterwegs.

Doch das schreckt weder die Organisatoren noch die Teilnehmer ab. Wenn es schließlich zurück nach Tunis geht, sind viele Wanderer schon in Gedanken beim nächsten Sonntag, wenn es wieder heißt: hinaus in die Freiheit.

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