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Frauen in Burka an einer Verteilstelle für Lebensmittel in einem Vorort von Kabul (Archivbild vom 6. November 2021)

© AFP/Hector Retamal

Mein dunkelster Tag in Afghanistan: „Alle Bücher waren mit Blut verschmiert, die Studenten tot“

Am 15. August 2021 ergriffen die Taliban wieder die Macht in Afghanistan. Doch nicht nur dieser Tag war für viele Menschen dort ein Schock. Schon zuvor terrorisierten die Dschihadisten das Land.

Viele hatten es erwartet. Und doch war es ein schwerer Schock, als am 15. August 2021 die Taliban in einer Blitzoffensive die afghanische Hauptstadt Kabul eroberten und die Macht an sich rissen. Seitdem ist für viele Menschen nichts mehr, wie es war. Jeder Hoffnung auf eine moderne Zukunft hat sich vor allem für die Frauen und Mädchen des Landes zerstreut.

Zuvor hatten die Taliban bereits von 1996 bis 2001 Afghanistan mit harter Hand beherrscht. Nach den Anschlägen vom 11. September 2001 in den USA weigerte sich das Regime den damaligen Al-Kaida-Führer Osama bin Laden auszuliefern. Die USA marschierten ein, vertrieben die Islamisten und stützten fortan die Regierung in Kabul, auch mit viel Hilfe aus Deutschland.

Zwanzig Jahre später kollabierte das Land, noch vor dem endgültigen Abzug der letzten amerikanischen Soldaten. Der gewählte Präsident Aschraf Ghani floh ins Exil.

Dramatische Szenen am Flughafen von Kabul: Hunderte Menschen stürmten am 16. August 2021 panisch das Rollfeld, als die ersten Evakuierungsflüge abhoben.
Dramatische Szenen am Flughafen von Kabul: Hunderte Menschen stürmten am 16. August 2021 panisch das Rollfeld, als die ersten Evakuierungsflüge abhoben.

© dpa/Uncredited

Der Tagesspiegel konnte mit zwei Menschen aus Afghanistan sprechen. Für sie war der 15. August 2021 keinesfalls der schlimmste Einschnitt. Ihre Geschichten zeigen: Der Terror herrschte schon zuvor und kam nach diesem historischen Datum mit neuer Wucht.


Anschlag auf Studierende

Der ehemalige Leiter des afghanischen Zentrums für Entwicklungsstudien und Assistenzprofessor an der Universität Kabul, Fardin Hashimi, berichtet vom 1. November 2020:

„Zum Ende des Semesters war ich zu einem Treffen der Professoren eingeladen. Doch als ich ankam, war niemand dort. Ich wollte zu meinem Fahrer zurückgehen, als ich Schüsse hörte. In Richtung Bildungsministerium herrschte ein gigantisches Durcheinander. In der ersten halben Stunde wurden mehr als 1000 Schüsse abgefeuert.

Anfangs dachte ich, das seien Schüsse auf Sicherheitsbehörden. Aber als ich Stunden später zu Hause ankam, hörte ich, dass meine Studenten dem Angriff zum Opfer gefallen waren.

Ich hatte gerade Bücher für das neue Semester an sie verteilt. Tags darauf waren alle Bücher mit Blut verschmiert und meine Studenten waren tot.

Fardin Hashimi, früherer Assistenzprofessor an der Universität Kabul

In der juristischen Fakultät der Kabuler Uni gibt es Fluchtwege und Stahltüren, die man abschließen kann, um sicher zu sein. Dort waren eigentlich auch die Vorlesungen für die Wirtschaftswissenschaften. Aber genau einen Tag vor dem Anschlag, wurden die Studenten des vierten Semesters in einen anderen Teil der Uni gebracht, der keine Sicherheitsvorkehrungen hatte.

Zweimal in der Woche hatten wir eine Vorlesung, ich hatte gerade Bücher für das neue Semester an sie verteilt – für die Zukunft Afghanistans.

Afghanische Kinder besuchen den Unterricht in einer Schule im Bezirk Fayzabad in der Provinz Badakhshan am 26. Juli 2023.
Afghanische Kinder besuchen den Unterricht in einer Schule im Bezirk Fayzabad in der Provinz Badakhshan am 26. Juli 2023.

© AFP/Omer Abar

Tags darauf waren alle Bücher mit Blut verschmiert und meine Studenten tot. Ihre Zukunft dauerte kaum 24 Stunden. Für mich ist das unerträglich. Aber wie muss es für ihre Eltern sein? Ich habe danach recherchiert.

Dieser Angriff war systematisch geplant. Die Mörder sind kaltblütig und ruhig vorgegangen. Sie hatten keine Angst, dass sie schnell sein müssten (und gestoppt werden könnten), haben Überlebende berichtet. Viele dieser Studenten waren das Herzstück unseres Landes, sie waren die Köpfe, die Afghanistan voranbringen wollten. Über dieses Massaker wurde kaum berichtet. Die Welt war im Covid-Schrecken.“


Widerstand der Frauen

Die afghanische Frauenrechts-Aktivistin Zarmina Paryani wurde am 19. Januar 2022 verhaftet. Die inzwischen 26-Jährige, deren Familie aus dem Pandschir-Tal stammt, beschreibt den Terror der Dschihadisten:

„Meine Schwestern und ich haben nach der Machtübernahme der Taliban auf der Straße Widerstand geleistet. Damit sie uns bei unseren Protesten nicht erkennen und verfolgen konnten, haben wir immer wieder die Farben unserer Kopftücher gewechselt, wenn wir in Kabul unterwegs waren.

Ich wollte lieber sterben, als ihnen in die Hände zu fallen. Also sprang ich aus dem dritten Stock.

Zarmina Paryani, afghanische Frauenrechtsaktivistin über ihre Verhaftung durch die Taliban

Abends haben wir uns immer ohne Licht in einem Versteck aufgehalten. Am 19. Januar 2022 hämmerte es an die Tür. Wir wussten, das konnten nur die Taliban sein. Wir haben den Wachmann gerufen. Aber es kam keine Antwort.

Plötzlich stand eine Gruppe Männer in unserer Wohnung. Ich schrie bei ihrem Anblick. Sie sahen aus wie Tiere, die gerade aus der Wildnis kamen. Ich wollte lieber sterben, als ihnen in die Hände zu fallen. Wir wussten von anderen Frauen, die abgeholt worden waren und Opfer von Gruppenvergewaltigungen wurden.

Eine Bettlerin sitzt am 19. Juli 2022 vor einer Bäckerei in Kabul.
Eine Bettlerin sitzt am 19. Juli 2022 vor einer Bäckerei in Kabul.

© AFP/Danieol Leal

Wegen dieser Schande wurden einige danach von ihren Familien umgebracht. Vergewaltigte Frauen finden in Afghanistan keinen Mann.

Also sprang ich aus dem dritten Stock. Aber ich war nicht tot und so zerrten sie mich in ein Auto. Vor dem Haus stand eine ganze Kompanie mit Panzern – nur unseretwegen, drei jungen Aktivistinnen. Als hätten sie eine Mafia-Bande festnehmen wollen. Alle Nachbarn hatten Angst, keiner hat uns geholfen.

Wir hatten gefilmt, wie die Männer in unser Haus gekommen waren, und Kontakt mit Journalisten aufgenommen. Als sie uns mit verbundenen Augen und geknebelten Händen wegzerrten, da waren unsere Videos schon im Netz. Ob uns das gerettet hat?

Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer patrouillieren nach ihrer Machtübernahme durch Kabul.
Schwer bewaffnete Taliban-Kämpfer patrouillieren nach ihrer Machtübernahme durch Kabul.

© dpa/AP/Rahmat Gul

Wir kamen zunächst in ein Gefängnis, wo früher Terroristen eingesperrt wurden. Meine Schwestern wurden in eine andere Zelle gesperrt als ich. Noch in der Nacht hat eine Gruppe von Taliban meine Schwester stundenlang gefoltert: gepeitscht, getreten, geschlagen. Ich konnte ihre Schreie hören. Sie hat alles auf sich genommen.

Nach ein paar Tagen fiel sie in Ohnmacht. Wir mussten ihren Puls suchen. In ihren Haaren fanden wir Stücke von den Wasserschläuchen, mit denen sie sie geschlagen hatten. Ihr Kleid war voll Blut und klebte an ihrem Körper. Die Schreie anderer Gefangener begleiteten unsere Nächte wie eine Hintergrundmusik.

Die Taliban nahmen uns unsere Dokumente weg und herrschten uns an, über das Gefängnis zu schweigen. Nach 28 Tagen übergaben sie uns unseren Familien. Unsere Angehörigen wurden hierfür in eine Moschee einbestellt. Die ganze Straße dort extra abgesperrt, damit niemand die Übergabe auf Video aufnehmen konnte.“

Fardin Hashimi und Zarmina Paryani waren Gäste der German Association for Central Asia in Berlin, wo die Autorin ihre Geschichten dokumentierte.

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