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Die Türkei wählt: Plakate von Recep Tayyip Erdogan und Herausforderer Kemal Kilicdaroglu

© AFP/Ozan Kose

Richtungswahl auch für Europa und die Welt: Die Türkei kann sich für mehr Freiheit entscheiden

Die Wahl in der Türkei könnte eine Sternstunde der Demokratie werden. Doch es braucht auch Mut, nach 20 Jahren Erdogan einen Machtwechsel herbeizuführen.

Ein Kommentar von Andrea Nüsse

Eigentlich sieht es ganz einfach aus. Mit simplen Kreuzen auf ihren Wahlzetteln könnten die Türken am Sonntag einen radikal neuen Weg einschlagen: Sie könnten die Regentschaft des zunehmend autokratisch auftretenden Recep Tayyib Erdogan beenden.

Kein Coup oder Aufstand sind nötig, ein Urnengang macht es möglich. Und erstmals seit vielen Jahren ist der Sieg eines Herausforderers, des demokratisch gesinnten Kemal Kilicdaroglu, in Reichweite.

Die beiden Präsidentschaftskandidaten unterschieden sich nicht nur in einzelnen Punkten ihres Wahlprogramms, sondern haben völlig unterschiedliche Auffassungen von Demokratie, religiösem und ethnischem Pluralismus und Freiheit. Daher sind die Folgen dieser Richtungswahl immens – für die Türkei, für Europa und für die Welt.

Intellektuelle könnten aus Exil zurückkehren

Sofort spürbar wären die Veränderungen bei einem Machtwechsel für türkische Oppositionelle, Intellektuelle und Journalisten: Sie könnten voraussichtlich bald die Gefängnisse verlassen, wo sie nicht nur nach Ansicht des Straßburger Menschenrechtsgerichtshofs aus politischen Gründen sitzen.

Der Journalist Can Dündar in Berlin und die vielen ins Exil gedrängten Intellektuellen könnten in ihre Heimat zurückkehren. Kurden und religiöse Minderheiten könnten aufatmen.

Der in Deutschland im Exil lebende türkische Journalist Can Dündar in einem Glas-Nachbau seiner früheren Gefängniszelle in der Türkei.
Der in Deutschland im Exil lebende türkische Journalist Can Dündar in einem Glas-Nachbau seiner früheren Gefängniszelle in der Türkei.

© dpa/Axel Heimken

Aber auch Länder wie Schweden würden direkt profitieren: Der von Stockholm beschlossene Nato-Beitritt würde nicht weiter blockiert. Doch wenn Demokraten und Autokraten weltweit gebannt auf die Türkei-Wahlen schauen, dann hat das noch einen übergeordneten Grund.

Die türkischen Wähler haben die Chance, sich für eine freiere und damit mittelfristig auch wirtschaftlich wieder prosperierende Gesellschaft zu entscheiden.

Andrea Nüsse

In Zeiten, wo autoritäre Politiker von Ungarn bis Indien im Aufwind sind, würde eine friedliche Abwahl Erdogans diesen Trend brechen. Und zeigen, dass ein Wechsel auch in Staaten noch möglich ist, deren demokratisches System von oben ausgehöhlt wird.

Es geht auch um gesellschaftliche Milieus

Aber entscheiden werden die türkischen Staatsbürger. Und da spielen auch andere Faktoren eine Rolle: Wie überall geht es um Milieus. Erdogan repräsentiert noch immer den Aufstieg einer konservativ-religiös geprägten Bevölkerungsschicht, die sich lange ins Abseits gestellt fühlte.

Der Nationalismus ist auch jenseits dieser Gruppen ausgesprochen stark – da kann Erdogan abermals punkten. Er wird als starker Führer wahrgenommen, der der Regionalmacht Türkei ihren angemessenen Platz in der internationalen Politik gesichert hat. 

Doch Erdogan hat eine Achillesferse, und das ist die katastrophale Wirtschaftsentwicklung. Auch seine Kernklientel bekommt diese zu spüren; und sie ist offensichtlich verbunden mit der autokratischen und erratischen Politik Erdogans, die auf persönliche Loyalität statt Expertise setzt. Das haben die Enthüllungen zur Korruption in der Baupolitik deutlich gezeigt, die nach den verheerenden Erdbeben im Februar öffentlich wurde.

Wenn es westlichen Beobachtern offensichtlich erscheint, dass die türkischen Wähler der autoritären Politik ein Ende setzen sollten: Für Türken und Türkinnen wäre ein Machtwechsel auch ein Wagnis und ein gewisser Sprung ins Ungewisse. Das muss man anerkennen. Diesen Sprung scheuen auch andere Nationen oft.

Herausforderer Kilicdaroglu ist glaubhaft in seinem Anliegen für die Stärkung der Demokratie und den Rückbau des präsidialen Systems. Auch dürfte er aus Fehlern der Vergangenheit gelernt und die Angst vor einem erneuten Kopftuchverbot abgebaut haben.

Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu
Erdogan-Herausforderer Kemal Kilicdaroglu

© AFP/Yasin Akgul

Seine Stärke sind Inklusion und Konsensbildung. Nur so konnte er sehr unterschiedliche Oppositionsparteien zu einem schlagkräftigen Wahlbündnis einen. Doch welche politischen Gegenleistungen das im Falle eines Wahlsiegs erfordert, ist weniger klar.

Und nicht zu vergessen: Am Sonntag finden nicht nur Präsidentschaftswahlen statt, sondern auch Parlamentswahlen. Dass die Parteien des Sechser-Oppositionsbündnisses eine absolute Mehrheit im Parlament erringen, galt zuletzt als unwahrscheinlich.

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Das könnte auch Auswirkungen auf die Präsidentschaftsentscheidung haben. Denn sollte im ersten Anlauf keiner der beiden Kandidaten eine absolute Mehrheit erringen, käme es zwei Wochen später zur Stichwahl.

Bis dahin könnte Erdogan den Wählern Angst einjagen, zum Beispiel mit dem Szenario eines Präsidenten ohne Parlamentsmehrheit (im Falle eines AKP-Parlamentssiegs).

Bei stramm nationalistischen Wählern könnte er sich als einziger Führer darstellen, der eine pro-kurdische Parlamentsmehrheit verhindern kann. Bei einer Stichwahl gäbe es also ganz neue Unwägbarkeiten.

Klar ist heute nur: Die türkischen Wähler haben die Chance, sich für eine freiere und damit mittelfristig auch wirtschaftlich wieder prosperierende Gesellschaft zu entscheiden. Die Welt fiebert mit.

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