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Ein Graffito zeigt den ertrunkenen zweijährigen Alan Kurdi auf der Osthafenmole in Frankfurt am Main.

© dpa/Arne Dedert

Tante des ertrunkenen Alan Kurdi: „Das Mittelmeer ist Tatort von Menschheitsverbrechen“

Im Jahr 2015 wurde der tote Körper des zweijährigen Jungen an der türkischen Küste gefunden. In einem dramatischen Appell klagen seine Tante und 190 Hilfsorganisationen Europas Flüchtlingspolitik an.

Seit 2021 begehen die Vereinten Nationen an jedem 20. Juni den Tag des Flüchtlings. Die Zahl der Menschen, die Schutz vor Verfolgung und Krieg suchen oder angesichts zerstörter Lebensgrundlagen fliehen, ist schwindelerregend gestiegen zusammen mit der Zahl derer, für die die Flucht den Tod bedeutet.

Der Weltflüchtlingstag 2023 unter dem Motto „Das Recht auf Schutz“ fällt in eine besonders kritische Phase: Den jüngsten UN-Zahlen zufolge hat sich die ohnehin hohe Zahl Geflüchteter in den vergangenen sieben Jahren nahezu verdoppelt, auf weltweit 110 Millionen Menschen.

Der reiche Norden der Welt ist zugleich immer stärker bemüht, sich gegen sie abzuschotten: Vor zehn Tagen entschied die Europäische Union sich für ein System der Asylprüfung an den EU-Außengrenzen, von dem Fachleute befürchten, dass es eine Ausweitung und Legalisierung des Elendslagersystems der griechischen Inseln bedeutet. Und vor wenigen Tagen sank erneut ein Schiff vor Griechenland, vermutlich 600 Menschen starben.

Vor zehn Jahren löste der Tod von 365 Flüchtlingen vor Lampedusa noch einen Aufschrei aus. Wir dokumentieren im Folgenden den Aufruf von knapp 190 Seenotrettungsorganisationen und -Hilfsinitiativen und von Tima Kurdi, der Tante des 2015 ertrunkenen zweijährigen Alan zum Flüchtlingstag 2023.


Bis zu 600 Menschen ertrinken vor Pylos, Griechenland – nur wenige Tage nachdem sich die EU-Innenminister:innen auf eine weitere Aushöhlung des Asylrechts einigen.

Heute, am Weltflüchtlingstag, fordern wir gemeinsam eine vollständige und unabhängige Untersuchung der Ereignisse, klare Konsequenzen für die Verantwortlichen, ein Ende der systematischen Pushback-Praktiken an den europäischen Grenzen und Gerechtigkeit für die Opfer.

Zehn Jahre nach den beiden Schiffsunglücken vor Lampedusa in Italien, bei denen rund 600 Menschen ums Leben kamen und die einen großen öffentlichen Aufschrei auslösten, sind vor Pylos in Griechenland bis zu 600 Menschen im Mittelmeer ertrunken. Am 14. Juni 2023 tötete das europäische Grenzregime erneut Menschen, die von ihrem Recht auf Schutz Gebrauch machten.

2015 haben wir ,Nie wieder’ gehört, ich habe es unzählige Male gehört. Und was hat sich geändert?

Tima Kurdi, Tante des 2015 ertrunkenen zweijährigen Alan Kurdi

Wir sind erschüttert! Und wir sind solidarisch mit allen Überlebenden sowie mit den Familien und Freunden der Verstorbenen. Wir drücken unser tiefes Beileid und unsere Trauer aus.

Warum schleppte die Küstenwache das Schiff ab?

Bis heute sind unzählige Fragen unbeantwortet geblieben. Nach Aussagen der Überlebenden schleppte die griechische Küstenwache das Boot ab und brachte es zum Kentern. Warum wurde dieses unglaublich gefährliche Manöver überhaupt versucht? Hat die hellenische Küstenwache das Boot in Richtung Italien geschleppt, um die Menschen in die italienische oder maltesische Verantwortung zu drängen?

Warum haben weder die griechische Küstenwache noch die italienischen oder maltesischen Behörden früher eingegriffen, obwohl sie mindestens zwölf Stunden zuvor alarmiert worden waren? Welche Rolle hat die europäische Grenz- und Küstenwache Frontex gespielt?

Seine erste Reise als Papst unternahm Franziskus im Juli 2013 nach Lampedusa. Die im Meer zu Tode gekommenen Flüchtlinge ehrte er mit einem Blumenkranz. Wenige Wochen später, am 3. Oktober, starben vor der Insel Hunderte.
Seine erste Reise als Papst unternahm Franziskus im Juli 2013 nach Lampedusa. Die im Meer zu Tode gekommenen Flüchtlinge ehrte er mit einem Blumenkranz. Wenige Wochen später, am 3. Oktober, starben vor der Insel Hunderte.

© Reuters/Andreas Solaro

Bei all dieser Ungewissheit ist eines unübersehbar: Dieser Schiffbruch – wie auch unzählige zuvor – ist die direkte Folge politischer Entscheidungen, die darauf abzielen, Menschen an der Ankunft in Europa zu hindern. Dieser Schiffbruch ist die Folge davon, dass illegale Praktiken der Staaten an den Grenzen straffrei bleiben und dass Praktiken legalisiert werden, die darauf abzielen, die Entrechtung von Menschen auf der Flucht zu normalisieren.

27.047
Menschen sind seit 2013 auf der Flucht im Mittelmeer ertrunken.

Aktivisten und Organisationen prangern systematische Pushbacks an, die Verzögerung und unterlassene Rettungsaktionen, die Kriminalisierung ziviler Such- und Rettungsaktionen und die Zusammenarbeit mit unsicheren Ländern, um die europäischen Grenzen zu externalisieren und Abschiebungen möglich zu machen.

Als Reaktion auf das Sterben wird die Abschottung verstärkt

Europas Migrations- und Abschottungspolitik verursacht physische und psychische Gewalt, Inhaftierung und Tod. Hören Sie auf, sich aus der Verantwortung zu stehlen – hören Sie auf, Menschen auf der Flucht zu töten!

Bislang haben die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten keine Absicht erkennen lassen, aus den vergangenen Jahren zu lernen und das Sterben im Mittelmeer zu beenden. Stattdessen verschärfen sie ihre tödliche Abschottungspolitik.

Erst letzte Woche, am 8. Juni, einigte sich der Rat der Europäischen Union auf eine Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS), die dazu führt, dass Grundrechte wie das Recht auf Asyl oder das Recht auf Freizügigkeit massiv beschnitten werden.

Es war nur eine Frage der Zeit, bis sich das nächste Schiffsunglück ereignen würde. Und es wird sich wieder ereignen, während sich die Bedingungen in den Herkunfts-, Transit- und Ausreiseländern verschlechtern und die Grenzpraktiken die Menschen dazu zwingen, gefährlichere Routen zu nehmen.

Dieser Schiffbruch ist die direkte Folge politischer Entscheidungen, die darauf abzielen, Menschen an der Ankunft in Europa zu hindern.

Aus dem Aufruf von Seenotrettungsorganisationen

Seit Lampedusa im Jahr 2013 haben wir mindestens 27.047 Tote im Mittelmeer zu beklagen. Einer von ihnen war Alan Kurdi. Seine Tante, Tima Kurdi, äußert sich zu dem tödlichen Schiffsunglück:

„Dieses Schiffsunglück bringt meinen Schmerz zurück, unseren Schmerz. Mein Herz ist gebrochen. Ich bin untröstlich über all die unschuldigen Seelen, die verloren gegangen sind und die nicht nur eine Zahl auf dieser Welt sind. „Nie wieder“ haben wir 2015 gehört, ich habe es unzählige Male gehört. Und was hat sich geändert? Wie viele unschuldige Seelen sind seither auf See verloren gegangen?

Ich möchte Sie in den 2. September 2015 zurückversetzen, als Sie alle das Bild meines Neffen, des 2-jährigen Babys, am türkischen Strand sahen. Was haben Sie gefühlt, als Sie sein Bild sahen? Was haben Sie gesagt, was haben Sie getan?

Ich, als ich hörte, dass mein Neffe ertrunken ist, bin auf den Boden gefallen und habe so laut geschrien, wie ich konnte, weil ich wollte, dass die Welt mich hört! Warum sie? Warum jetzt? Und wer ist der Nächste?

Öffnen Sie Ihr Herz und nehmen Sie die Menschen auf, die vor Ihrer Haustür fliehen.

Tima Kurdi

Seitdem habe ich beschlossen, meine Stimme zu erheben und mich für alle einzusetzen, die nicht gehört werden. Und vor allem für meinen Neffen, den Jungen am Strand, Alan Kurdi, dessen Stimme nie wieder gehört werden wird.

Tima Kurdi, Tante des im Jahr 2015 ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi.
Tima Kurdi, Tante des im Jahr 2015 ertrunkenen Flüchtlingsjungen Alan Kurdi.

© dpa/Jörg Carstensen

Bitte schweigen Sie nicht und schließen Sie sich meiner Stimme an. Wir können nicht die Augen verschließen und Menschen, die Schutz suchen, den Rücken kehren. Öffnen Sie Ihr Herz und nehmen Sie die Menschen auf, die vor Ihrer Haustür fliehen.

„Untersuchen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft ziehen“

Die europäische Migrationspolitik muss sich jetzt ändern. Sie musste sich schon vor langer Zeit ändern. Sie muss sichere Wege zur Flucht bieten. Der Bau einer Mauer ist keine Lösung. Das Festhalten von Rettungsschiffen zur Rettung von Menschenleben ist keine Lösung. Menschen als Schmuggler zu beschuldigen, ist keine Lösung.

Der unverzeihliche Schiffbruch vor Griechenland zeigt uns, dass das Mittelmeer nicht nur ein Friedhof ist, sondern auch ein Tatort.

Aus dem Aufruf zum Weltflüchtlingstag

Die Menschen leiden, und sie werden immer einen Weg finden, zu fliehen. Sie haben die Macht, zu entscheiden, ob sie gefährliche Routen nehmen müssen, weil es keinen anderen Weg gibt. Handeln Sie danach!“

Angekommen im Lager: Überlebende des Schiffbruchs von Lampedusa 2013 kurz nach ihrer Rettung.
Angekommen im Lager: Überlebende des Schiffbruchs von Lampedusa 2013 kurz nach ihrer Rettung.

© AFP/Alberto Pizzoli

Der unverzeihliche Schiffbruch vor Griechenland zeigt uns, dass das Mittelmeer nicht nur ein Friedhof ist, sondern auch ein Tatort. Ein Schauplatz von Verbrechen gegen die Menschheit mit Millionen von privilegierten Touristen, die weiterhin jedes Jahr ungehindert auf dem Meer fahren. Aus diesem Grund fordern wir ein sofortiges Ende der (systematischen) Grenzgewalt. Wir fordern, dass,

1. sowohl die griechischen als auch die europäischen Regierungen und Institutionen sicherstellen, dass es vollständige, gründliche und unabhängige Untersuchungen zu diesen Ereignissen gibt. Es ist an der Zeit, dass die Geschehnisse vollständig transparent und die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Dies gilt sowohl für Beamte, die durch ihre Entscheidungen direkt an den Ereignissen beteiligt waren, als auch für die Spitzenpolitiker, die die feindseligen Praktiken an den Außengrenzen seit Jahren begünstigt und aufrechterhalten haben. Der Zugang zur Justiz für die Opfer und ihre Angehörigen muss sichergestellt werden.

2. dass die griechische Regierung die Überlebenden des Schiffbruchs von Pylos unverzüglich aus den (halb-)geschlossenen Einrichtungen entlässt und ihnen stattdessen eine menschenwürdige Unterbringung und jede Art von Unterstützung gewährt, die sie benötigen, wie z.B. eine unabhängige Rechtsberatung, psychologische Unterstützung und die Möglichkeit, mit Familien und Freunden zu kommunizieren.

3. Außerdem fordern wir die Freilassung der neun verhafteten Männer. Wir verurteilen die Kriminalisierung von Menschen auf der Flucht, die für illegale Einreisen und Todesfälle auf See verantwortlich gemacht werden. Diese Anschuldigungen dienen dazu, die verantwortlichen staatlichen Akteure zu entlasten.

Wir fordern alle europäischen Mitgliedsstaaten an den Außengrenzen auf, nicht länger Zeit zur Waffe zu machen, indem sie Rettungsmaßnahmen verzögern.  

4. Darüber hinaus fordern wir unabhängige Untersuchungen und konsequente Maßnahmen der Europäischen Kommission gegen die systematische Praxis der Zurückdrängung und unterlassenen Hilfeleistung auf See und an Land durch europäische Mitgliedsstaaten – wie sie in den letzten Jahren von Organisationen und Aktivisten vielfach öffentlich gemacht wurde.

Die Europäische Union und ihre Mitgliedsstaaten müssen sichere und legale Routen nach Europa als einzige Lösung anbieten, um weitere Verluste von Menschenleben auf See zu vermeiden. Das GEAS, das das Recht auf Asyl in der Europäischen Union weiter aushöhlt, darf nicht in einem Gesetz umgesetzt werden. Außerdem fordern wir, dass ein europäisches Rettungsprogramm unter staatlicher Führung geschaffen wird, das längst überfällig ist.

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