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Schmerzhafte Erinnerungen: Eine Szene aus „Surwilo – Eine russische Familiengeschichte“.

© avant

Die besten Comics des Jahres 2022: Erschütternd und urkomisch, wild und brillant

Welches sind die besten Comics des Jahres? Das fragen wir unsere Leser:innen und eine Fachjury. Heute: Die Top-5 von Tagesspiegel-Autor Erik Wenk.

Auch in diesem Jahr fragen wir unsere Leserinnen und Leser wieder, welches für sie die besten Comics der vergangenen zwölf Monate waren. Unter allen Einsendenden werden wertvolle Buchpakete verlost. Hier eine erste Auswahl der Ergebnisse und Informationen zu den Teilnahmebedingungen.

Parallel dazu ist wie bereits in den vergangenen Jahren wieder eine Fachjury gefragt. Die besteht in diesem Jahr aus zehn Autorinnen und Autoren der Tagesspiegel-Comicseiten: Barbara Buchholz, Christian Endres, Birte Förster, Moritz Honert, Lara Keilbart, Rilana Kubassa, Sabine Scholz, Ralph Trommer, Lars von Törne und Erik Wenk.

Die Mitglieder der Jury küren in einem ersten Durchgang ihre fünf persönlichen Top-Comics des Jahres, die in den vergangenen zwölf Monaten auf Deutsch erschienen sind. Jeder individuelle Favorit wird von den Jurymitgliedern mit Punkten von 5 (Favorit) bis 1 (fünftbester Comic) beurteilt.

Welches sind in diesem Jahr die Top-Titel? Kurz vor Weihnachten steht das Jury-Ergebnis fest.
Welches sind in diesem Jahr die Top-Titel? Kurz vor Weihnachten steht das Jury-Ergebnis fest.

© Tagesspiegel

Daraus ergibt sich dann die Shortlist, auf der alle Titel mit mindestens fünf Punkten oder mindestens zwei Nennungen landen. Diese Shortlist wird abschließend von allen Jurymitgliedern erneut mit Punkten bewertet - daraus ergab sich die Rangfolge der besten Comics des Jahres, die wieder kurz vor Weihnachten im Tagesspiegel veröffentlicht wird.

Die Favoriten von Tagesspiegel-Autor Erik Wenk

Platz 5: Lewis Trondheim: „Die neuen Abenteuer von Herrn Hase – Schluss mit lustig“.
Gleich zweimal hat Lewis Trondheim seine bekannteste Figur Herr Hase dieses Jahr in ein Abenteuer geschickt: Einmal in der Asterix-Hommage „Beim Teutates!“ und in „Schluss mit lustig“, dem siebten Band der „Neuen Abenteuer von Herrn Hase“. Ersterer war nicht mehr als ein netter Crossover-Comic, doch zweiterer zeigt Trondheims altbekannte Stärken: Gemeinsam mit seinem extrovertierten Freund Richard philosophiert sich Herr Hase in herrlich schlagfertigen Dialogen durch die Wirren des Alltags, hinterfragt den Kunstbegriff, feiert die Freundschaft und grübelt darüber nach, wie weit man für die Rettung des Planeten gehen sollte.

Eine Seite aus „Die neuen Abenteuer von Herrn Hase – Schluss mit lustig“.
Eine Seite aus „Die neuen Abenteuer von Herrn Hase – Schluss mit lustig“.

© Reprodukt

Steht auf dem ersten Blick Herrn Hases Beziehung zu seiner etwas autoritären Freundin Camille im Vordergrund, wird die Story schon bald komplexer und dreht sich schließlich um typische Trondheim-Fragen: Was heißt es, ein guter Mensch zu sein? Rechtfertigen gute Ziele jedes Mittel? Sollte man sein Geld mit etwas Sinnvollem verdienen? Und warum verhalten sich Menschen so oft wie Arschlöcher?

Gespickt mit klugen Alltagsbeobachtungen und skurrilen Charakteren liefert das neueste Herr-Hase-Abenteuer viele Momente zum Nachdenken, denen aber ebenso so viele urkomische Dialogzeilen gegenüberstehen, die direkt aus einer Screwball-Komödie stammen könnten. Trondheims unaufgeregter Zeichenstil zeigt ein ums andere Mal, dass man nicht viele Striche braucht, um glaubwürdige Figuren zu erschaffen.

Platz 4: Magali Le Huche: „Nowhere Girl“. Ein großartiges Comic-Debüt: Mit „Nowhere Girl“ hat die französische Kinderbuchautorin Magali Le Huche die Beatles-Obsession ihrer Jugend in eine autobiografische Coming-of-Age-Story voller hinreißender Zeichnungen verarbeitet. Sie versetzt uns in das Paris Anfang der 90er Jahre, als Magali gerade elf Jahre alt ist: Angekommen in der Mittelstufe quälen sie Versagensängste, der Schulbesuch wird zur Tortur. Doch zum Glück gibt es ja John, Paul, George und Ringo – als Magalis erstmals eine CD der Beatles hört, wird der Schwarzweiß-Comic plötzlich von einem psychedelischen Farbenrausch überschwemmt.

Eine Seite aus „Nowhere Girl“.
Eine Seite aus „Nowhere Girl“.

© Reprodukt

Zwei Jahre lang wird Magali Heimunterricht verordnet. In der Isolation flüchtet sie sich komplett in die Musik der Fab Four, die bei ihren gleichaltrigen Freundinnen im Paris der 90er Jahre auf wenig Gegenliebe stößt. Magalis Leidenschaft treibt manch kuriose Blüte: Sie reißt Plakate zeitgenössischer Sänger ab, spielt Beatles-Alben vom Balkon ihres Zimmers und ritzt sogar „Beatles“ in ihre Schuhsohlen, um diese beim Laufen als Stempel zu benutzen.

Immer, wenn Magali der Schule, der Pubertät oder der Realität der 90er Jahre entkommen will, steigt sie gedanklich ins „Yellow Submarine“ ein und taucht ab in das Farbenmeer des gleichnamigen Zeichentrickfilms von 1968. In diesen Momenten ist der Comic am schönsten: Nicht nur wegen der verspielten Kolorierungen, die Le Huches Klasse als Kinderbuchillustratorin zeigen, sondern auch wegen der berührenden Gleichzeitigkeit von kindlicher Verletzlichkeit und fanatischer Begeisterung, die ihr jüngeres Ich in diesen Sequenzen ausstrahlt.

Platz 3: Zerocalcare: „Vergiss meinen Namen“. Wie entgeht man dem Schmerz des eigenen Schicksals? Indem man seine Lebensgeschichte als Literatur begreift und sich selbst als Helden eines Abenteuers. Dies jedenfalls ist der Ansatz des italienischen Zeichners Zerocalcare, der mit „Vergiss meinen Namen“ eine der schrägsten, witzigsten und berührendsten Comic-Autobiografien der letzten Jahre geschaffen hat. Ausgehend vom Tod seiner geliebten Großmutter arbeitet er die verwickelte Geschichte seiner Familie auf, in der es zahlreiche Geheimnisse gibt. „Ich habe immer Angst, die Realität damit zu verwechseln, wie meine Phantasie 30 Jahre lang die Löcher und Lücken gestopft hat“, heißt es zu Beginn.

Eine Seite aus „Vergiss meinen Namen“.
Eine Seite aus „Vergiss meinen Namen“.

© avant

Genauso funktioniert auch das visuelle Konzept von Zerocalcare, das zu den überraschendsten Erzählstrategien gehört, die man aktuell in der Comic-Welt finden kann: In zahllosen Abschweifungen verkleidet er sich oder seine Verwandten in Figuren aus Disney-Klassikern, Filmen wie „300“ oder Anime-Serien, um mit emotional belastenden Erinnerungen umgehen zu können. Mit Anleihen an Manga-Ästhetik, Funny-Comics und vielen filmischen Überhöhungen entsteht eine wilde Mischung, deren stilistische Sprünge perfekt widerspiegeln, welche Irrungen und Wirrungen Zerocalcare in seiner eigenen Geschichte durchlaufen musste.

Das Erzähltempo ist hoch, und streckenweise hat man das Gefühl, der Comic müsste angesichts der Fülle an Zeitebenen und popkulturellen Anspielungen im nächsten Moment auseinanderfliegen. Doch Zerocalcare schafft es, das genau dies nicht passiert. Und noch ein Kunststück gelingt ihm: Trotz der sehr ernsten Themen ist „Vergiss meinen Namen“ immer wieder hochkomisch.

Platz 2: Reid Kikuo Johnson: „Kein anderer“. Familiendrama auf hawaiianisch: Sensibel und ohne Schuldzuweisungen erzählt „Kein anderer“ von der Unfähigkeit, zu trauern. Nachdem der Vater der alleinerziehenden Mutter Charlene durch einen Unfall gestorben ist, brechen ihre gewohnten Familien-Routinen zusammen. Als ihr Bruder Robbie nach langer Anwesenheit zur Beerdigung wieder auftaucht, wird klar, dass der Vater ein herrischer Patriarch war. Charlenes kleinen Sohn Brandon hingegen bewegt das Verschwinden seiner Katze wesentlich mehr als der Tod des Großvaters.

Eine Szene aus „Kein anderer“.
Eine Szene aus „Kein anderer“.

© Reprodukt

Präzise schildert der auf Maui geborene US-Amerikaner Reid Kikuo Johnson die dysfunktionale Familie als eine Gruppe von Alleingelassenen, die zu sehr mit sich selbst beschäftigt sind, um sich um andere zu kümmern. Die an Adrian Tomine erinnernden Schwarzweiß-Zeichnungen werden nur gelegentlich von orangenen Farbtupfern durchbrochen, die unterdrückte Emotionen und Erinnerungen aus der Vergangenheit markieren. Die Stille und Kraft, die Johnsons klare Linien ausstrahlen, treffen den Ton der Geschichte perfekt. Trotz (oder gerade wegen) ihrer Schlichtheit hallen die Bilder lange nach.

Johnson ist ein brillanter visueller Erzähler, der es schafft, mit wortlosen Andeutungen ganze Biografien zu enthüllen und nebenbei gleich auch noch ein paar Hawaii-Klischees zu dekonstruieren. Ein berührender und wahrhaftiger Comic, der von „The New Yorker“ zu Recht als einen der besten Comics des Jahres 2021 gepriesen wurde.

Platz 1: Olga Lawrentjewa: „Surwilo“. Russland hat keine große Comic-Tradition. Nur selten werden Titel ins Deutsche übersetzt, und wenn, dann handelt es sich meist um etwas Besonderes. Bei „Surwilo“ von Olga Lawrentjewa ist dies der Fall: Ihr Comic über die Lebensgeschichte ihrer Mutter Walentina gehört zu den intensivsten und eindrucksvollsten Lese-Erfahrungen dieses Jahres.

Eine weitere Szene aus „Surwilo – Eine russische Familiengeschichte“.
Eine weitere Szene aus „Surwilo – Eine russische Familiengeschichte“.

© avant

Aufgewachsen in der Sowjetunion der 30er Jahre erleidet Walentina früh den Verlust ihres Vaters, der zu Unrecht als Spion inhaftiert und hingerichtet wird. Als Tochter eines „Volksverräters“ bleibt ihr im stalinistischen Russland jeder soziale Aufstieg verwehrt, sie wird deportiert. Walentina ist stark, doch ihr Leidensweg ist lang: Erschütternd sind vor allem die Schilderungen aus Leningrad, das während des Zweiten Weltkriegs 28 Monate von den Deutschen blockiert wurde, um die Stadtbevölkerung mit Kälte und Hunger in die Knie zu zwingen.

Lawrentjewa erzählt die Geschichte ihrer Mutter mit kraftvollen Schwarzweiß-Zeichnungen, die sich streckenweise zu einem expressionistischen Rauschen steigern: Bäume, Züge, Wolken, Pfützen, Menschenmengen und Hände verschwimmen ineinander, so wie die Erinnerungen an lange Vergangenes oft miteinander verschwimmen, wenn die Details von Emotionen überflutet werden.

Im Russland der Gegenwart gerät der stalinistische Terror – auch staatlich verordnet - immer weiter in Vergessenheit. Insofern ist „Surwilo“ eine schmerzliche Mahnung: Wer aus der Geschichte nicht lernt, ist dazu verdammt, sie zu wiederholen.

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