zum Hauptinhalt
Pretty in Pink. Moriyamas Foto „Untitled“ entstand 2017 in Tokyo für den Bildband „Pretty Woman“. 

© Daido Moriyama/Daido Moriyama Photo Foundatio

Daido Moriyama bei C/O Berlin: Jedes Bild ein Kinnhaken

Berühmt wurde er mit dem Bild eines streunenden Hundes, sein Œuvre ist gewaltig. Die Galerie C/O Berlin feiert den Fotografen Daido Moryama mit einer Retrospektive.

Diese Bilderfülle muss man erstmal verdauen. Der heute 84-jährige Daido Moriyama hat sich wie ein Fotojunkie seinem Medium verschrieben. Mit Angriffslust, oft brutaler Direktheit, engen Anschnitten, in grobkörnigen Schwarzweißbildern sezierte der Fotograf die Kultur seines Landes, vor allem in Tokio, wo er ab 1961 lebte.

In der Retrospektive seines bis heute anhaltenden Schaffens bei C/O Berlin wird überall der Konflikt zwischen japanischer Tradition und den westlichen Einflüssen infolge der amerikanischen Besatzung augenfällig. Zugleich hat Moriyama immer wieder das Fotomedium selbst überprüft – seine Möglichkeiten und Grenzen, die vom „Realen“ abgehobene Parallelexistenz des Fotografischen.

Die Schau wurde vom brasilianischen Instituto Moreira Salles in Zusammenarbeit mit der Daido Moriyama Photo Foundation organisiert. Nach der Premiere in São Paulo ist Berlin die zweite Ausstellungsstation – und damit die erste in Europa. Eingebunden in die Konzeption war von Anfang an Sophia Greiff, seit 2023 eine der beiden neuen künstlerischen Leiterinnen im Amerika-Haus.

Versteht sich Moriyama, der hochwertige Kameraoptik und edle Abzüge geringschätzt, als Künstler? „Eher nicht“, erklärt die Kuratorin, „zumindest hat er das Elitäre der Kunst immer abgelehnt. Seltene Originale bedeutet ihm nichts. Er versteht Fotografie als reproduzierbare Sprache, die auf Magazinseiten zirkuliert und in Fotobüchern. Er hat auch einmal gesagt, dass Kameras eigentlich Kopiergeräte sind.“

Die Retrospektive nimmt das gesamte Erdgeschoss der Institution ein und ist chronologisch aufgebaut. Allerdings hat der weiterhin aktive Moriyama, der aus Altersgründen nicht aus Tokio angereist ist, häufig älteres Material in neue Serien eingespeist.

Motive wiederholen sich auch in der Ausstellung, sind auf Originalabzügen, Fototapeten, Projektionen und in den vielen Büchern des Fotografen zu sehen; Bilderbücher in Vitrinen, im letzten Raum aber auch zum Blättern. Bücher, Druckqualität egal, führen ins Herz von Moriyamas Praxis. Fotografie gehört allen, soll verfügbar und benutzbar sein.

„Untitled“, entstanden 1967 in Hayama, aus dem Bildband „A Hunter“.
„Untitled“, entstanden 1967 in Hayama, aus dem Bildband „A Hunter“.

© Daido Moriyama/Daido Moriyama Photo Foundation

Mittendrin dann doch ein „Vintage Print“, ein historischer Edel-Abzug: „Stray Dog“, das Foto vom streunenden Hund ist sein berühmtestes Foto. 1971 auf einer Reise in die Region Tōhoku fotografiert, wurde der hungrig wirkende Hund mit der Zeit zu einem metaphorischen Alter Ego des ruhelosen Fotografen, der „On the Road“ von Jack Kerouac nicht zufällig zum Lieblingsroman erkoren hat.

Ansonsten haben ihn besonders der im letzten September verstorbene US-Fotograf William Klein und Andy Warhol beeinflusst. In thematischer und formaler Nähe zu Warhols „Death and Disaster“-Werken schuf Moriyama 1969 eine monatliche „Accident“-Bildkolumne für die Zeitschrift „Asahi Camera“. Jede Folge umkreiste irgendein mehr oder weniger dramatisches Ereignis aus Tokio: Autounfälle, Schlägereien, Brände.

Dokumente der Sensationsgier

Moriyama kombinierte verschiedene Ansichten, wiederholte ausschnittsvergrößert bestimmte Details der Reportagefotos, die meist nicht aus seiner Kamera stammten. Kernfrage: Was bleibt von einem Ereignis in der Berichterstattung übrig? Ausgangspunkt waren Pressebilder der Ermordung Robert Kennedys, die für Moriyama weniger den Tod eines Menschen, sondern Sensationsgier transportierten.

Moriyama hat immer wieder am Wirklichkeitsgehalt der Fotografie gezweifelt. Seine Serie „Farewell Photography“, 1972 als Fotoband erschienen, nimmt maximalen Abstand von den Bildgegenständen. Auf zwei Fototapeten bei C/O ist eine Kakophonie aus Bildfragmenten, teilweise von TV-Bildschirmen oder Zeitungen abfotografiert.

Eine Sequenz ohne Zusammenhang. Kratzer, Flecken und verwaschenes Grau betonen die Flächigkeit der Bilder. Er habe damit „versucht, die Fotografie zu demontieren, aber am Ende wurde ich selbst demontiert“ hat Moriyama das kommentiert.

In der zweiten Hälfte der 1970er versiegt die Schaffenskraft, der Fotograf hat mit den Folgen von Drogenkonsum und Depressionen zu kämpfen. Den Weg aus der Krise findet Moriyama mit einer intensiven Selbstbefragung Anfang der 1980er.

So besucht er für „Asahi Camera“ verschiedene Orte seiner Jugend, fährt zu amerikanischen Militärstützpunkten, behandelt die Einsamkeitsgefühle seiner Kindheit, die Ängste des Jugendlichen oder den frühen Tod seines Zwillingsbruders. Zu den Bildern der 14-teiligen Serie „Memories of a Dog“ treten erstmals autobiografische Texte, denn: „Ich versuche nicht, mich in in dem zu finden, was ich ‚schieße‘, ich will wohl nur meine Position in der Welt erkennen.“ (Moriyama)

Im zweiten Ausstellungsteil, der die Zeit nach der Lebenskrise umfasst und sinnigerweise auch in luftigeren C/O-Räumen mit höheren Decken stattfindet, spürt man, dass der Fotograf sich seit den 1980ern in der Welt neupositioniert hat. Während Farbfotografien bis in die 1970er spärlich gesät sind, bricht sich die Lust an kräftigen Farbkontrasten etwa in der 2017 veröffentlichten Serie „Pretty Woman“ Bahn: Bling-Bling und Konsumkrimskrams, Spuren von urbanem Müll, schöne Frauen und Schaufensterpuppen. Obwohl eindrucksvoll mit kleinen Abzügen auf Fototapete inszeniert, wirkt die Serie altersmilde, ein wenig müde auch.

Der schmutzige Look von früher ist verflogen, was vielleicht mit dem Verzicht auf Analogtechnik zusammenhängt. „Moriyama fotografiert inzwischen mit Digitalkameras“, sagt Sophia Greiff, „weil das Sortiment an Filmen und Papieren, die er gerne benutzte, nicht mehr angeboten werden.“

Nicht wie, sondern dass er fotografiert, scheint für Moriyama lebenswichtig. Denn der Kosmos, die sich an den Wänden und zwischen Buchdeckeln auftut, scheint für ihn die beste aller Welten zu sein. O-Ton Moriyama: „Ich finde die Menschen, die in einer Welt der Pixel leben, lebendiger als die tatsächlich Lebenden, die ich vor meinen Augen sehe.“

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false