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High sea wave during storm at Mediterranean area

© freepik/Iakov Filimonov

Grenzerfahrungen mit dem Meer: Faszination und Untergang

Das Meer ist dieser Tage in aller Munde, aus unterschiedlichsten, grausamsten Gründen. Es steht unter Druck, selbst die Ewigkeitsgeborgenheit, die es vermittelt, ist in Gefahr. Eine Betrachtung.

Man kann gar nicht anders dieser Tage, als mit einem faszinierenden Grusel das Drama des verschwundenen MIni-U-Boots verfolgen. Fünf Männer auf einem Raum, der weniger als sieben Meter Länge misst; die sich darin eng an eng gegenübersitzen, zusammenkauern, ein Stehen unmöglich. Und die irgendwo in der knapp viertausend Meter messenden Tiefe des atlantischen Ozeans auf Rettung warten, mit Sauerstoffvorräten gerade noch bis Donnerstagmittag.

Faszinierend ist dieser Grusel, weil allein dieses so endlos in der Weite und Tiefe sich erstreckende Meer die menschliche Vorstellungskraft übersteigt, jenseits von schnöden Karten, die die Weltmeere so verführerisch überschaubar machen. Eine Illusion. Zahllose Dichter wiederum haben versucht, die Faszination für die Urgewalt des Meeres in Worte zu fassen.

Unermessliche Kraft

So heißt es in des Tagträumers liebster Fibel, Iwan Gontscharows „Oblomow“: „In dem kaum merklichen Schwanken der Wassermassen erblickt der Mensch immer die gleiche, unermessliche, wenn auch schlummernde Kraft, die sich bisweilen so boshaft über seinen stolzen Willen lustig macht und seine kühnen Gedanken, alle seine Sorgen und Mühen so tief unter sich begräbt.“ 

Das Meer besitzt den Zauber der Dinge, die auch nachts nicht schweigen, die unserem unruhigen Leben erlauben zu schlafen...

Marcel Proust

Bei Proust besitzt das Meer „den Zauber der Dinge, die auch nachts nicht schweigen, die unserem unruhigen Leben erlauben zu schlafen, die versprechen, daß nicht alles zu nichts werden wird (...). Und der Philosoph Karl Jaspers bekannte: „Das Philosophieren wird ergriffen von der Forderung, es aushalten zu können, dass nirgends fester Boden ist, aber dadurch der Grund der Dinge spricht. Das Meer stellt diese Forderung. Dort ist keinerlei Fesselung. Das ist das unheimlich Einzige des Meeres.“ Hier die Sehnsucht, dort der Abgrund; hier die Todessehnsucht, dort der grenzenlose Freiheitsraum.

Die Faszination für das Mini-U-Boot-Drama hat nicht zuletzt damit zu tun, bei aller Tragik, dass diese Männer sich dem freiwillig ausgesetzt haben. Sie haben viel Geld für diese Tauchfahrt zu der versunkenen Titanic ausgegeben, sind selbst der Faszination für den Untergang der Titanic erlegen, der die Menschen seit über hundert Jahren nun schon bewegt.

Von wirklicher gar keiner Faszination wird das Grauen begleitet, dem die 750 größtenteils aus Syrien, Pakistan und Afghanistan stammenden Geflüchteten ausgesetzt waren, als sie vergangene Woche versuchten, mit einem praktisch seeuntauglichen Boot über das Mittelmeer von Libyen nach Italien zu kommen. Wenn das Meer gern ein Freiheitsversprechen darstellt, „das Meer der Möglichkeiten“ – und das ist dieser Transitraum für die Geflüchteten mit dem Blick auf ein vermeintlich besseres Leben in West-Europa –, dann ist es in ihrem Fall auch ein existentielles Risiko, das sie eingehen. Sie wissen, dass viele vor ihnen auf dem Mittelmeer ihr Leben verloren haben.

Dass Ihnen niemand zu Hilfe kam, sie geradezu offenen Auges von den griechischen Behörden brutal ihrem Schicksal überlassen wurden, hat mit einer gewissen Ortlosigkeit, mit der Unübersichtlichkeit auf dem Meer zu tun, trotz aller Grenzen, die hier künstlich gezogen worden sind, um Verantwortungsbereiche zu schaffen. Unterlassene Hilfeleistungen, sie sind die Regel bei den vielen Geflüchtetenbooten, und obwohl sich das Mini-U-Boot-Drama nicht mit der Tragödie vor dem Peloponnes vergleichen lässt: Der Aufwand, mit dem vor der Küste der USA nach dem U-Boot gesucht wird, steht in keinem Verhältnis zu den (Nicht-)Maßnahmen im Mittelmeer.

Die Ambivalenz dieser Meereserfahrungen ließ sich überdies in den vergangenen Jahren auf den griechischen Inseln betrachten, auf Lesbos und Samos. Hier waren die einen sprichwörtlich gestrandet und wurden unter menschenunwürdigsten Bedingungen in Lagern zusammengepfercht; und dort, ein paar Kilometer weiter, wollten sich die anderen, die Touristen, am Strand der Anschauung des Meeres, der steten Bewegung seiner Wellen, seiner alles andere als illusionären Unendlichkeit hingeben.

Von hier, den Stränden griechischer Inseln, im Grunde denen überall auf der Welt, ist der Weg nicht weit zu der Problematik, die dem Meer möglicherweise eines Tages den Garaus macht: die Zerstörung der Ozeane durch Massen von Plastikmüll – und durch den Klimawandel. Seit Monaten sind die Ozeane so warm wie nie, im Nordatlantik sind es 23 Grad. Alles kippt, alles versteppt, und selbst das letzte Reservoir des faszinierend Unerforschten in seiner Tiefe steht am Abgrund.

Das, was immer da ist, was uns alle überlebt, Generation für Generation, gerät an seine Grenzen – und vorbei ist es mit der Mischung aus Schönheit und Grauen. Wie hatte es Thomas Mann in Hans Castorps „Strandspaziergang“ geschrieben, einem Kapitel aus seinem „Zauberberg“: „Schließen wir doch die Augen, geborgen von Ewigkeit!“ Leider ist es möglich, dass das Meer selbst diese Ewigkeitsgeborgenheit bald nicht mehr hergibt.

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