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Marcel Proust

© picture alliance/dpa / dpa

Proustbetrieb: In Sodom und Gomorrha

Erst die Tochter von Vinteuil und ihre Freundin, dann Charlus und Jupien: Wie der Erzähler der „Recherche“ die Homosexualität entdeckt.

Ein Kommentar von Gerrit Bartels

Es dauert so seine Weile, bis der Erzähler von Marcel Prousts „Recherche“ die „sittlich-moralische Landschaft“ der Homosexualität entdeckt, der weiblichen wie der männlichen. Genau genommen bis zum vierten Band „Sodom und Gomorrha“, als er gleich zu Beginn im Hof der Guermantes auf einer Treppe steht und versteckt hinter einem Vorhang den Baron de Charlus und den Schneider Jupien dabei beobachtet, wie sie einander erkennen, flirten und schließlich zu einem Schäferstündchen verschwinden.

Diese Szene gehört mit zu den eindrücklichsten, erinnerungswürdigsten der „Recherche“. Marcel Proust parallelisiert hier die Begegnung der beiden Männer zudem mit der Befruchtung einer Orchidee durch eine Hummel. Noch bevor Charlus und Jupien sich treffen, wird diese Parallelaktion vorbereitet.

Hummel und Orchidee

Der zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr ganz so kleine Marcel schaut zunächst „durch die Läden des Treppenfensters auf den kleinen Strauch der Herzogin und die kostbare Pflanze, die mit der gleichen Beharrlichkeit im Hof ausgestellt wurden, mit der man heiratsfähige junge Leute ausführt, und ich fragte mich, ob durch eine Fügung der Vorsehung das unwahrscheinliche Insekt den dargebotenen und verschmähten Blütenstempel wohl aufsuchen werde.“

Sex im Ladenraum

Später folgt er Charlus und Jupien, die dann in einem Ladenraum Sex haben, und vergleicht die Töne, die sie dabei von sich geben, mit denen einer Mordtat. „Man hätte meinen können, neben mir würde ein Mensch von einem anderen erwürgt.“

Allerdings erkennt er auch, und hier kommen die Komposition und das komplizierte Spiel mit der Zeit in Prousts vielbändigem Werk zum Zug, dass er Ähnliches, für ihn seinerzeit noch Unverständliches schon einmal erlebt hat: in Montjouvain, nicht weit von Combray und kurz nach dem Tod des Komponisten Vinteuil.

Wieder aus einem Versteck heraus beobachtete er da die Tochter des Komponisten und eine Freundin, die „auf Vergnügungen“ aus waren. Dabei bezeichnete die Freundin der Vinteuil-Tochter deren toten Vater als „Ekel“ und „alter Affe“, was diese kaum stört: „Doch sie konnte der Lockung der Lust nicht widerstehen, dass eine gegen einen wehrlosen Toten so unerbittlich strenge Person ihr Zärtlichkeiten erwies.“

Diese Szene findet sich im ersten Teil der „Recherche“, in „Combray“. An dieser frühen Stelle ist sie ein zeitlicher Vorgriff auf das, was da noch alles kommt: von den vielen Liebesbegegnungen Albertines mit ihren Freundinnen über Charlus’ Beziehung zu dem jungen Morel bis hin zu den Männerbordellbesuchen eines Robert Saint-Loup.

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