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8627 Fotos: One Year Performance 1980–1981 (Time Clock Piece) von Tehching Hsieh.

© Tehching Hsieh, Foto: Stefan Pchalek

Tehching Hsiehs extreme „One Year Pieces“: Leben ist, wenn die Zeit vergeht

Dokumentationen vergangener Performances sind oft öde. Nicht so derzeit in der Nationalgalerie. Ein Must-see der nächsten Monate.

Eine Kolumne von Birgit Rieger

Bei Kunst, egal wie sie aussieht oder aus was sie besteht, geht es im Grunde immer darum, etwas über das Leben zu lernen. Niemand schafft das so eindrücklich, so brutal wie Tehching Hsieh, „der wichtigste Künstler, den Sie noch nicht kennen“.

So formulierte es Klaus Biesenbach zu Beginn der Ausstellung in der Neuen Nationalgalerie. Ich war zur Eröffnung nicht da, lief aber am Ostersonntag in die Nationalgalerie, kurz bevor sie schloss. Ich kam vom Wannsee, wo das Anbaden im 9 Grad kalten Wasser wenig über das Leben, aber viel über kribbelnde Gliedmaßen lehrt.

Vom Tellerwäscher zum Performancekünstler

Tehching Hsieh, in Taiwan geboren, kam 1974 auf einem Schiff nach New York und lebte 14 Jahre lang illegal in den USA. Er schlug sich als Tellerwäscher durch. Während er zur Arbeit ging und wieder nach Hause und wieder zur Arbeit, ständig in der Angst entdeckt und aus dem Land geworfen zu werden, fiel ihm auf, dass er sich eigentlich längst mitten im künstlerischen Prozess befand.

Einmal pro Stunde antreten, ein ganzes Jahr lang: Tehching Hsieh neben der Stempeluhr aus „Time Clock Piece“. Aus mehr als 8000 Bildern wurde ein Sech-Minuten-Film.
Einmal pro Stunde antreten, ein ganzes Jahr lang: Tehching Hsieh neben der Stempeluhr aus „Time Clock Piece“. Aus mehr als 8000 Bildern wurde ein Sech-Minuten-Film.

© der Künstler / Foto: Florian Lampersberger | Near Future

Ihm wurde klar, dass das Leben nichts weiter ist, als ablaufende Zeit und dass die Kunst ein gutes Vehikel ist, um das zu zeigen. In den folgenden Jahren konzipierte er sechs „One year pieces“, bei denen er jeweils ein Jahr lang etwas durchzog, das nach Askese und unvorstellbaren Strapazen aussieht, aber anderes gedacht ist: als Leben, ablaufende Zeit und als Kunst.

Ein Jahr lang kein Schlaf

Hsieh lebte zum Beispiel ein Jahr lang in einem Käfig in seinem Studio, ohne zu reden, zu lesen, zu schreiben. Er lebte ein Jahr lang unter freiem Himmel, ohne je ein Gebäude oder eine U-Bahn zu betreten. Er war ein Jahr lang mit einem 240 cm langen Seil an die Künstlerin Linda Montana gebunden. Niemlas allein, nur im Bad, während sie vor der Tür wartete. Jedes Mal, wenn er aufstehen, aus dem Fenster schauen oder sich ein Glas Wasser holen wollte, musste sie zustimmen und umgekehrt. Sie sagt, sie hätte ihn umgebracht, wenn es nicht die Regel gegeben hätte, sich nicht zu berühren.

Am ausführlichsten in der Nationalgalerie zu sehen ist „One Year Performance 1980–1981 (Time Clock Piece)„. Der Künstler hatte es sich zur Aufgabe gemacht, ein Jahr lang jede Stunde eine Stempeluhr zu betätigen und dabei ein Selbstporträt zu fotografieren. Alle 8627 Porträts, die entstanden sind, hängen an den Wänden der Nationalgalerie, zusammen mit den Stempelkarten.

Die wenigen Ausfälle und Stunden, die er verschlief, hat der Künstler akribisch dokumentiert. Die Bilder sind zu einem Video montiert, in denen sich der Zeiger der Uhr in rasendem Tempo bewegt, während die Haare des Künstlers im Zeitraffer länger werden. So gut!

Eindrücklicher kann man das Ablaufen der Zeit kaum ins Bild fassen. Im Gropius Bau dockt mit Jenny Schlenzka ab September eine Performance-Expertin als Direktorin an. Sie hat, wie Klaus Biesenbach, in New York schon mit Tehching Hsieh gearbeitet, dessen letzte Performance übrigens darin besteht, keine Kunst mehr zu machen. Es wäre aufregend, wenn Berlin bald mehr „time based art“, wie es immer so schön heißt, auf diesem Level zu sehen bekäme. 

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