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Alltag im Krieg: Junge Männer spielen im Park vor dem Nationalmuseum in Kiew Fußball.

© dpa/Jae C. Hong

Ukrainisches Kriegstagebuch (158): Morgengrüße aus Kiew

Der ukrainische Autor, DJ und Musiker Yuriy Gurzhy lebt seit 1995 in Berlin. Hier schreibt er über den Krieg in der Ukraine.

Eine Kolumne von Yuriy Gurzhy

2. August 2023

Der Zug, mit dem ich von Przemysl in die ukrainische Hauptstadt reise, hat drei Stunden Verspätung. Niemand scheint sich darüber aufzuregen – auf der Liste der Sorgen, die den Alltag meiner Landsleute derzeit begleiten, rangieren Zugverspätungen ziemlich weit unten. Mein Tag in Kiew wird dadurch kürzer, und ich habe viel vor, schließlich bin ich seit November 2021 nicht mehr hier gewesen. 

Gestern Abend, als wir die Grenze überquerten, schaltete ich mein Handy aus, nachdem eine freundliche SMS von 02 mich in der Ukraine begrüßte und über die hohen Roaming-Gebühren informierte. Ich habe mir vorgenommen, gleich nach der Ankunft eine lokale SIM-Karte zu erwerben. Für den Preis eines dreiminütigen Gesprächs zum 02-Tarif wäre ich auf diese Weise für die nächsten Wochen mit einer Internet- und Anruf-Flatrate versorgt. Der Plan hat nur einen Haken – bis zum Besuch eines Kiosks von einem Mobilfunkanbieter in Kiew bin ich offline.  

Männer in Militäruniform zieren das Straßenbild

Der Bahnhof ist voll mit Menschen – nichts Ungewöhnliches für Kiew, doch manches wirkt anders. Definitiv mehr Männer in Militäruniform. Weniger Lächeln. Die Kiosks für Touristen bieten T-Shirts mit Slogans wie „russian war ship go fuck yourself“ an. 

Binnen zehn Minuten bin ich stolzer Besitzer einer ukrainischen Mobilfunknummer und wieder online: mit einem Dutzend unbeantworteter Nachrichten. Alle, die mitbekommen haben, dass ich mich auf eine Reise in die Ukraine begeben habe, möchten nun wissen, ob alles gut läuft.

Alltag im Krieg: Studentinnen machen Selfies in einem Park.

© dpa/Jae C. Hong

„Danke, gut, ja, bin in Kiew, ja, alles wunderbar.“ Ich schalte zwischen WhatsApp, Telegram, Messenger und Google Maps und laufe zum Cafe Beim lieben Onkel, das vom Bahnhof zu Fuß gut erreichbar ist. „Du wirst den Laden lieben“, schrieb mein alter Freund Taras, mit dem wir uns dort verabredet haben, „er gehört einem Landsmann von Dir.“

Mein Telefon klingelt. Es ist Andreas, ein Berliner Freund, der anscheinend nicht mitbekommen hat, dass ich gerade nicht in Berlin bin. Er entschuldigt sich und möchte wissen, wie ich die Stimmung in Kiew empfinde. Ich sage, dass ich mein Handy gerade für die Navigation brauche und lege auf. 

Es ist ein heißer, sonniger Sommertag. Ich habe einen dringenden Bedarf nach Kaffee, am besten ein kalter. Das Glück in Form einer Cafeteria liegt direkt auf meinem Weg. Während ich auf den Cold Brew warte, überlege ich, was ich Andreas über die Stimmung in Kiew berichten könnte. 

Die Jugendlichen von Kiew erkennen Raketen am Klang

Rund um mich sitzen überwiegend junge Hipster. Es ist eine Freude, sie zu beobachten – mit ihren Piercings, aufwändigen Tattoos und bunten T-Shirts würden sie genauso gut in die Straßen von Berlin, Frankfurt oder Hamburg passen. Ihr Englisch ist bestimmt auf dem gleichen Niveau wie das unserer Zwanzigjährigen, man würde sie wahrscheinlich nicht voneinander unterscheiden können.

Aber wesentliche Unterschiede gibt es doch: Ihre Häuser werden täglich von russischen Raketen zerstört, die Jungs dürfen ihr Land nicht verlassen und können jede Minute in die Armee eingezogen werden. Die Väter, Brüder und Schwestern von ihnen kämpfen an der Front oder sind gefallen, sie erkennen eine Drohne und eine Rakete am Klang. 

Entgegen meiner Erwartungen werden beim „lieben Onkel“ keine Charkiwer Spezialitäten serviert, sondern die Küche des Nahen Ostens. Mein Teller mit Hummus, Halloumi und gedünstetem Gemüsen schmeckt wie in den besten Restaurants von Kreuzberg. Taras und seine Frau erzählen von ihrem älteren Sohn, der zum Militär eingezogen wurde und vom riesigen Parkplatz unter ihrem Haus, den sie während der Luftangriffe mit den Studenten einer nahegelegenen Zirkusschule teilen. „Die machen einfach weiter,“ lacht Taras. „Da oben fliegen Drohnen auf uns, und hier gibt es eine Vorstellung mit Clowns und Akrobaten, stell Dir vor!“

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